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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition)
Autoren: Charlotte Rogan
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ergab es sich, dass jede von uns am Tag einmal den Unterschlupf aufsuchen durfte, den wir schon bald unseren »Schlafraum« nannten. Die Zeit, die übrig blieb, war den Männern überlassen, falls sie davon Gebrauch machen wollten.
    Nachdem dies erledigt war, beauftragte Mr Hardie die Ruderer, die anderen Rettungsboote in Sichtweite zu halten, sofern das möglich war. Ich nahm es freiwillig auf mich, ihnen dabei zu helfen, und so spähte ich den ganzen Tag mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne, wobei ich versuchte, mit den Händen das Funkeln der Sonne auf dem Meer abzuschirmen. Ich hatte das Gefühl, auf diese Weise etwas zum Nutzen der Menschen in diesem Boot beizutragen. Mr Nilsson, der berichtete, dass er früher für eine Schifffahrtslinie gearbeitet hatte, und der sich anscheinend für einen Meister in Sachen Organisation hielt, fragte Mr Hardie, wie lange unsere Nahrungsvorräte reichen würden, aber Mr Hardie versicherte ihm, dass wir keinen Engpass zu befürchten hätten, es sei denn, wir würden nicht gerettet werden, womit er allerdings nicht rechne. Die meiste Zeit herrschte Schweigen, und ich erkannte an den leeren Blicken und den vergrößerten Pupillen, dass die meisten Frauen unter Schock standen. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich nur zwei meiner Leidensgenossen namentlich. Colonel Marsh, ein groß gewachsener, distinguierter Herr, dessen Frau vor einigen Jahren gestorben war, hatte mit Henry und mir am Tisch des Kapitäns gesessen, und Mrs Forester, eine schweigsame Frau mit nervösem Blick, hatte ich oft mit einem Buch oder ihrem Stickzeug in der Hand über das Deck der Zarin Alexandra schlendern sehen. Der Colonel nickte knapp in meine Richtung, aber als ich Mrs Forester mit einem vertraulichen Lächeln bedachte, wandte sie den Blick ab.
    Den ganzen Vormittag und bis weit in den Nachmittag hinein suchten wir den Horizont nach der Spur eines vorbeifahrenden Schiffes ab, während Mr Hardie entweder stoisch schwieg oder in einen unvermittelten Wortschwall ausbrach, gespickt mit geografischen Daten und Anekdoten über das Leben auf dem Meer. Sein kurzer Monolog über die Wirkung der Sonne auf dem Wasser am Äquator im Gegensatz zu der Wirkung auf die gewölbte Fläche der Pole war verwirrend, aber einige der Dinge, die er sagte, sind mir noch lebhaft im Gedächtnis. Er nannte das Rettungsboot einen Kutter und behauptete, es sei sowohl dafür gemacht, mittels der Ruder als auch mittels eines Segels angetrieben zu werden; und tatsächlich befand sich ein rundes Loch in einer der vorderen Querbänke, wo vermutlich ein Mast eingesteckt werden konnte. Wir hatten aber weder einen Mast noch ein Segel bei uns. Weiterhin erklärte er uns, dass die Geschwindigkeit der Rotation der Erde am Äquator viel höher sei als an den Polen und dass es auf der Oberfläche der Erde unterschiedliche Windgürtel gäbe. Wir befanden uns ungefähr auf dem dreiundvierzigsten Breitengrad, als das Schiff unterging, mit Fahrtrichtung Westen, eine Position, die uns laut Hardie genau in einen Gürtel beständiger Westwinde brächte. Westwinde, so meinte er, bliesen aus dem Westen und nicht nach Westen, und außerdem säßen wir mitten auf einer häufig befahrenen Schiffsroute, die genau auf dieser Linie liege, damit die Segelschiffe von diesen günstigen Winden profitieren könnten. Normalerweise, so Hardie, waren sowohl Winde wie auch Strömung gegen ein Schiff, das von Osten nach Westen fuhr, wie wir es getan hatten, aber das Aufkommen der Dampfschifffahrt hatte es möglich gemacht, kürzere, nördlicher gelegene Routen zu befahren, auch wenn das bedeutete, gegen den Wind zu steuern. Er malte uns Bilder von überfüllten Dampfschiffen, bis wir fest damit rechneten, im nächsten Moment zwischen einem halben Dutzend auswählen zu können, die alle zu unserer Rettung herbeieilten. Nur Mr Nilsson dämpfte unsere Euphorie ein wenig, indem er anmerkte: »Wer will jetzt schon freiwillig nach Europa reisen? Wir stehen am Vorabend eines Krieges!« Die Erwähnung des Krieges veranlasste den Colonel dazu, die Schultern zu straffen und sich zu Wort zu melden: »Ganz recht«, sagte er zackig, aber Mr Hardie warf ihnen beiden einen düsteren Blick zu und sagte: »Es gibt immer noch Schiffe, die in beide Richtungen fahren. Haltet die Augen offen, damit nicht am Ende eins davon geradewegs über uns drüberfährt.« Während wir alle Ausschau nach einem rettenden Schiff hielten, stimmte der schlanke Mann, der sich mittlerweile als Diakon zu
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