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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition)
Autoren: Charlotte Rogan
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weggeprügelt hätte, hätte ich es selbst tun müssen.

Nacht
    Wir waren seit etwa fünf Stunden in dem Boot, als der Himmel zuerst eine rosige Färbung annahm, die sich dann in ein tiefes Blau und schließlich in ein schwärzliches Lila wandelte. Die Sonne schien sich aufzublähen, während sie sich zu der dunkler werdenden Wasserfläche im Westen niedersenkte. In der Ferne sahen wir die anderen Rettungsboote als undeutliche Umrisse. Sie schaukelten auf dem Wasser wie wir selbst, hingeworfen in diese rosige und schwarze Weite, zur Untätigkeit verurteilt. Unser Schicksal lag in den Händen unbekannter Kapitäne und ihrer Mannschaften, die mittlerweile von unserer Not erfahren haben mussten.
    Ich hatte ungeduldig auf die Nacht gewartet, da es mich zunehmend drängte, meine Blase zu entleeren. Mr Hardie hatte uns erläutert, wie diese Verrichtung vor sich gehen würde. Die Damen durften einen der drei hölzernen Schöpfeimer benutzen, mit denen das hereinschwappende Wasser aus dem Boot befördert wurde. Hardie kämpfte ungeschickt mit den Worten, als er vorschlug, einen der Eimer in die Obhut von Mrs Grant zu geben, der wir unsere Bedürfnisse anvertrauen sollten. Wenn nun die Natur ihr Recht einfordere, müssten wir mit jemandem, der am Rand des Bootes saß, die Plätze tauschen. »Ach!«, rief Mr Hardie, und der schiefe Blick unter seinen dicken Augenbrauen wirkte fast komisch. »Na ja, Sie wissen schon. Ich bin sicher, Sie kriegen das hin.« Ihm, der noch vor wenigen Minuten mit uns die Liste der Vorräte durchgegangen war, die in jedem Rettungsboot vorhanden waren, und uns lang und breit deren Sinn und Zweck erklärt hatte, fehlten bei diesem Thema die Worte.
    Als der letzte Rest des orangefarbenen Sonnenrandes verschwunden war, verlangte ich nach dem Schöpfeimer und begab mich zur Reling. Zu meinem Unbehagen musste ich erkennen, dass der Himmel zwar dunkel geworden war, die Nacht jedoch noch immer Konturen zuließ, dass es Lichtquellen und Schatten gab – und hinter den Schatten Augen. Die Nacht war nicht der alles verdeckende Mantel, den ich mir erhofft hatte, und unsere Situation war darüber hinaus noch so beengt, dass das, was ich zu tun gezwungen war, nicht unbemerkt bleiben konnte. Ich dankte den Mächten, die dafür gesorgt hatten, dass ich hauptsächlich von Frauen umringt war, deren Zartgefühl es ihnen untersagte, sich anmerken zu lassen, dass sie wussten, was ich da tat. Wir saßen ja alle im selben Boot, und wir trafen eine stillschweigende Vereinbarung, dass wir dem Biest der körperlichen Notdurft nicht ins Auge blicken würden. Wir würden es ignorieren, würden uns ihm widersetzen, damit es nicht unseren Sinn für Anstand und Sitte zerstören möge, wir würden Höflichkeit wahren noch im Angesicht eines Unglücks, das uns beinahe das Leben gekostet hätte und immer noch kosten konnte.
    Am Ende war ich ungemein erleichtert, in mehr als einer Hinsicht. Ich war so mit der Frage beschäftigt gewesen, wie ich die Verrichtung jener Notwendigkeit bewerkstelligen sollte, dass ich kaum auf Mr Hardie geachtet hatte, als dieser uns einen Überblick über die Ausstattung des Rettungsbootes verschaffte. Jetzt aber war ich in der Lage, meine Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu richten, dass die Rettungsboote mit fünf Decken bestückt waren, mit einem Rettungsring, der an einer langen Leine hing, drei hölzernen Schöpfeimern, zwei Dosen mit Schiffszwieback, einem Fässchen Trinkwasser und zwei Tassen aus Blech. Zusätzlich zu diesen Vorräten hatte Mr Hardie von irgendwo ein Stück Käse und ein paar Laibe Brot aufgetrieben und noch zwei Wasserfässchen aus dem Meer gefischt, die, so sagte er uns, vermutlich aus einem gekenterten Rettungsboot stammten. Er erzählte uns, dass früher auf dem Deck der Zarin Alexandra eine Kiste mit Kompassen gestanden hätte, die jedoch auf einer früheren Fahrt verschwunden sei. Der Schiffseigner hatte wegen des bevorstehenden Krieges in Österreich die Abfahrt vorgezogen, und so war die Kiste nicht ersetzt worden. »Sie können sagen, was Sie wollen, aber Seeleute sind nicht besser oder schlechter als andere Leute.« Er versäumte auch nicht, uns zu versichern, dass es nur ihm allein zu verdanken war, dass die Segeltuchabdeckung, die das vertäute Rettungsboot trocken gehalten hatte, beim Zuwasserlassen mit im Boot gelandet war. »Aber wozu brauchen wir die denn?«, fragte Mr Hoffman. »Sie ist extrem schwer und nimmt viel Platz weg.« Aber Mr Hardie entgegnete lediglich,
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