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Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Titel: Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
Autoren: Batya Gur
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Erstes Kapitel
     
     
    Es kommt der Punkt im Leben eines Menschen, an dem er klar erkennt: Wenn er jetzt nichts unternimmt, wenn er sich jetzt nicht über seine Bedenken hinwegsetzt und den Gefühlen freien Lauf lässt, die er jahrelang unterdrückt hat – dann wird er es niemals tun. Diesen Gedanken sprach Inspektor Michael Ochajon nicht aus, aber er ging ihm durch den Kopf, als Balilati, der Leiter des polizeilichen Nachrichtendienstes, mit seinem Gemurre nicht mehr aufhören wollte, selbst als Michael sich bereits über die Leiche beugte. Er ging in die Hocke, um die ausgefrans ten Fasern des eingerissenen Seidenschals genauer zu betrachten, der um den Hals des Opfers geschlungen war. Vom Gesicht war nur noch eine zerschmetterte Masse aus Blut und Knochen übrig.
    Ada Efrati hatte sie alarmiert und auf dem Treppenabsatz vor der Tür ihrer Eigentumswohnung auf sie gewartet. Unverzüglich hatte Balilati sie mit Fragen bestürmt, nur um sie am Ende wissen zu lassen, dass sie morgen noch ausführlicher von Inspektor Ochajon vernommen würde. Er bemerkte überhaupt nicht den verstörten Blick, den sie Michael zuwarf, als sie hinter Balilati die Außentreppe hinaufstieg, die zum zweiten und letzten Stockwerk des Gebäudes führte. Und schon da, als sie sie zum ersten Mal dort in der Dämmerung sahen, hatte Balilati sich zu Michael umgedreht und eine schnelle Einschätzung vorgenommen (»Ob sich bei der ein Versuch lohnt? Was meinst du?« Und sofort selbst die Antwort darauf gegeben: »Die ist ein harter Brocken, schöne Lip pen hat sie, aber siehst du die zwei Furchen neben dem Mund? Die sagen: Null Interesse. Aber hast du ihre Figur gesehen? Und was für Nerven sie hat? Wie Drahtseile. Wir haben Leute schon ganz anders angetroffen, wenn sie eine Leiche gefunden haben, aber die, schau dir bloß mal an, wie sie dasteht«.)
    Balilatis Gemaule nahm auch dann noch kein Ende, als Dr. So lomon, der Pathologe, über den Leichnam gebeugt die Tote näher untersuchte. Er war erst vor wenigen Wochen von einer ein monatigen Fortbildung aus den Staaten zurückgekehrt und berichtete nun zwischen seinem üblichen Gesumme von den letz ten Neuheiten auf dem Gebiet der DNA-Forschung. Der Patho loge betastete die Fußsohlen der Leiche und fuhr mit einem Fingernagel über die Haut des Armes, während er Angaben zur Körpertemperatur in das Mikrofon des kleinen Geräts diktierte, das um seinen Hals hing. Hin und wieder wandte er den Kopf in Richtung seines Assistenten, eines russischen Neueinwanderers mit Stirnglatze, der jede seiner Bewegungen verfolgte und sich alle Augenblicke die feuchten Handteller an den Näh ten seiner hellen Khakihose abwischte. Auch die beiden Kollegen von der Spurensicherung waren am Tatort. Jafa fotografierte gerade mit Blick von unten und von der Seite die riesigen Wassertanks, zwischen denen die Leiche lag (»Schau dir das bloß an«, hatte Balilati gemurmelt, als sie die knarzende Holzleiter zu der engen Öffnung emporkletterten, die auf den Dachboden hinaufführte, »das stammt noch aus den Zeiten der Belagerung, die ganzen Wassertanks vom Viertel haben sie hier versammelt«). Danach ging Jafa in die Knie, und durch den Riss in ihrer Jeans schimmerte ein Streifen weißer Haut, während sie das zermalmte Gesicht aus nächster Nähe fotografierte und anschließend auch die Taubengerippe und den mumifizierten Katzenkadaver, der darüber geworfen lag. Alon von der Spurensicherung, der Michael als Student der Chemie vorgestellt worden war (»Man sagt, er sei so eine Art Genie, ein Wunderknabe an Gelehrsam keit«, hatte Balilati skeptisch gespöttelt, »was der bei uns zu suchen hat, weiß ich wirklich nicht«), scharrte mit den Füßen, zerrieb weißen Kalk zwischen den Fingern und spielte mit der Rolle des gelben Markierungsbands. Man sah ihm an, dass er un geduldig darauf wartete, dass der Pathologe ihm das Feld überließ.
    Balilati und Michael waren mit dem Wagen ins Bak’a-Viertel unterwegs gewesen, als sie von der Zentrale alarmiert worden waren. Vor der Fassade des Gebäudes angekommen, hatte Balilati einen Blick auf den gerundeten Balkon und die großen Fenster zu beiden Seiten geworfen und mit schiefem Mund, um seine Bewunderung zu überspielen, geknurrt: »Das ist ja ein Palast, das Ding, das haben die Leute hier jetzt gekauft? Schau dir bloß die Fläche an, die sie hier haben.« Danach platzierte er sich zwischen Klee und Unkraut, deutete auf einen Baum, dessen kahle Äste bis zum zweiten Geschoss
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