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Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Titel: Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
Autoren: Batya Gur
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völlig in Beschlag genommen hatte.
    »Ich möchte dir etwas zeigen«, hatte Michael zu ihm gesagt, nachdem sie zusammen zu Mittag gegessen hatten, »stell keine Fragen, sondern komm mit.« Er hatte vorgehabt, ihm die Woh nung zu zeigen und ihm erst hinterher zu erzählen, dass er sie ge kauft hatte. Als sie jedoch an der Ampel der Kreuzung Bethlehe mer Landstraße und Emek Refa’im hielten und Linda, die Maklerin, auflasen (»Wen, bitte wen musst du da abholen?« hatte Balilati zu erfahren verlangt, bevor sie die Kreuzung er reichten), begann das Funkgerät zu piepsen. So kam es, dass Michael ihm erst unterwegs zum Tatort kurz und knapp von der Wohnung berichtete, die er gekauft hatte.
    Von dem Moment an hatte Balilati nur noch protestiert, und auch jetzt klang Michael Ochajon sein vorwurfsvolles, beleidigtes Gezischel in den Ohren (»Warum hast du dich nicht mit mir beraten? Weißt du denn nicht, dass man solche Sachen nicht allein machen darf? Du weißt doch, dass ich mich auf so was ver stehe. Hat Juval sie schon gesehen?«). Michael ging nicht darauf ein. Er wandte seine Augen nicht von der Leiche ab und schluckte die Welle von Übelkeit hinunter, die beim Anblick der schwärzlich rötlichen Masse in ihm aufstieg, die einmal ein Gesicht gewesen war. Der Seidenschal, der nahezu unversehrt war, und das Kleid aus erlesener Wolle, das sich um die Brust und die schmalen Hüf ten schmiegte, legten die Vermutung nahe, dass dieses Gesicht ge pflegt, vielleicht sogar hübsch gewesen war; die Beine, schon von Leichenstarre befallen, lagen seltsam verkrümmt darunter angewinkelt.
    Balilatis pausenloses Gerede bezüglich der Wohnung empfand er jetzt als peinlich. In all den Jahren, in denen er zu einem Tatort gekommen war und Leichen gesehen hatte, hatte er sich noch immer keinen Gleichmut antrainiert. Wenn er sich über eine Leiche beugte, gelang es ihm nie, den Gedanken an die Vergänglichkeit des Lebens und die Allgegenwart des Todes auszublenden. Ein Gedanke, der bei ihm immer wieder aufs Neue den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zerstörte, ja die Existenz einer solchen überhaupt in Zweifel zog. Immer, wenn er sich über eine Leiche beugte, so wie jetzt zwischen den Tanks unter dem Ziegeldach, vermeinte er, jeden einzelnen seiner Knochen unterm Fleisch grinsen zu spüren. An seinen eigenen Tod musste er dann denken und sann mit gewisser Neugier darüber nach, wie der Tod all die Bemühungen, sein Leben zu ändern, zunichte ma chen würde. Er brauchte stets einige Zeit, ehe er seine Gedanken ge ordnet hatte und zu der eindeutigen – wenngleich nicht klar ausformulierten – Entscheidung kam, dass er etwas unternehmen musste. Ausgerechnet das Gefühl der Ohnmacht, das ihn beim Anblick einer Leiche überkam, löste bei ihm diesen Drang zum Handeln aus.
    Die Erfahrung der Jahre hatte ihn bereits gelehrt, dass sein Ge sicht in den ersten Augenblicken immer erstarrte und seine Miene nicht die leiseste Spur seiner Empfindungen verriet. Die Leute um ihn herum interpretierten seine verlangsamten Bewegungen und sein Schweigen als Zeichen von Konzentration. Der Gedanke an das spezielle Konzentrationsvermögen, das man ihm zuschrieb,
    ohne dass er selbst davon gewusst hätte, machte ihn stets betroffen. Wenn er mit Dani Balilati an seiner Seite am Tatort stand, war es ihm immer wieder peinlich, wenn er Balilatis Gerede hörte (der dann generell über Dinge sprach, die rein gar nichts mit dem Fall zu tun hatten, zu dem sie gerufen worden waren). Eine Leiche schien in Balilatis Augen nur noch ein Kadaver zu sein. Bisweilen fühlte sich Michael, als hätten die Mordopfer ihm die Verantwortung auferlegt, ihre Würde zu wahren, und dann nahm er zu Schweigen Zuflucht und tat so, als hörte er zu; manchmal rebellierte er auch und versuchte, Balilati zum Verstummen zu bringen. Diesmal kam zu all diesen Empfindungen auch noch die Last des Themas hinzu, das Balilati um keinen Preis fallen lassen wollte, da er sich schon vor langer Zeit zu Michaels Schutzpa tron erklärt hatte.
     
    Linda O’Brians Holzpantinen klapperten auf dem grauen Fliesenboden im unteren Stockwerk, und er lauschte auf den Lärm, während er die Kadaver der Tauben anstarrte, die sich unterm Dachgiebel verfangen hatten, und die Zigarettenstummel, die dort zwischen Papierfetzen und abgebrannten Streichhölzern weggeworfen worden waren, samt einer verdorrten Orangenschale, die Jafa nun ebenfalls behutsam in eine kleine Plastiktüte einsammelte. »Ich komme
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