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Raumschiff der Generationen

Raumschiff der Generationen

Titel: Raumschiff der Generationen
Autoren: Klaus Fischer
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1.
     
    Jedesmal, wenn er das Labor Dr. Pinarossis betrat, überkam Marc die gleiche zwiefache Empfindung.
    Einmal war da Bewunderung. Bewunderung und Erstaunen darüber, zu welch ästhetischer Vollendung der kühle Rechner Pinarossi die kalte Funktionalität seiner Gerätschaft mit den zum behaglichen Verweilen auffordernden Formen seines Mobiliars verbunden hatte.
    Pinarossi – auf diese Fähigkeit hin angesprochen – pflegte zu sagen:
    »Chlor ist ein auf den menschlichen Organismus hochgradig schädlich wirkendes Gas. Verbindet es sich mit Natrium, so wird daraus Kochsalz – ein äußerst nützlicher Stoff!«
    Die zweite Empfindung war unterschwelliger Natur.
    In den tiefsten Gründen seines Erinnerungsvermögens regte sich etwas. Nichts Greifbares, Rasterpunkte, die versuchten, sich zu einem Bild zu formen, dessen informativer Gehalt noch im Verborgenen blieb.
    Irgendein Detail, irgend etwas in der gläsernen Szenerie des Labors schien diese Erinnerung auszulösen, und die Hartnäckigheit, mit der sein Gedächtnis sich bemühte, die Fragmente zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen, glaubte Marc als einen Beweis dafür ansehen zu können, daß das der Erinnerung zugrunde liegende Ereignis von einschneidender Bedeutung gewesen war.
    Dieses Ereignis mochte in seiner frühesten Kindheit, womöglich gar in den Wurzeln seiner Menschwerdung zu suchen sein.
    Was war es …?
    »Ich bin fertig!«
    Vor ihm stand das Mädchen Tanne.
    Sie war in eine enganliegende, leuchtend grüne Kombination gekleidet. Ihr Haare schimmerten schwarzblau.
    Sie gefiel ihm.
    Pinarossi, im Hintergrund, beobachtete ihn. Nach einer Weile trat sein undeutbarer Blick den Rückzug an.
    »Guten Tag!«
    Als sie auf dem Verkehrsband standen, das sie dem Aquadrom zutrug, fragte Tanne:
    »Freust du dich?«
    Die Menschenmenge drängte das Mädchen gegen ihn. Sie war kleiner als er. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah ihm in die Augen.
    Tanne – die Gegenwart!
    »Ja!«
    Tanne hatte gesagt, daß sie noch nie im Aquadrom gewesen wäre. Sie würde ihren Spaß haben.
    »Du auch?«
    Sie nickte, strahlte ihn an. Dann zeigte sie mit dem Finger über seine Schulter hinweg. »Schau mal …! Sie bauen wieder.«
    Marc drehte sich um. Sein Blick sprang über das Schutzgeländer, das das Transportband begrenzte, erfaßte die Baurobots, die die Fertigteile demontierten und sie in die geöffneten Seitenstollen schoben, wo sie sogleich abtransportiert wurden.
    »Dort werden neue Wohnblocks errichtet.« Marc erinnerte sich, daß Hella Lundqvist von einer »Auflockerung« der Wohnstätten gesprochen hatte. Hatte man soviel Platz übrig, hatte er verwundert gefragt. Hellas mysteriöse Antwort, nach einigem Schweigen, »es ist vielleicht eine politische Sache«, hatte ihm eine Weile beschäftigt. Jetzt fiel sie ihm wieder ein.
    »Vielleicht«, sagte er, und plötzlich glaubte er Zusammenhänge zu erkennen, »vielleicht wollen sie die Wohnblocks nicht alle an einer Stelle konzentriert haben.« Und als er dem Mädchen den Kopf wieder zuwandte und ihren fragenden Blick bemerkte, »man ist der Meinung, die ›Oppos‹ hätten sich nicht zu einer solchen Plage entwickeln können, wenn nicht alle Bürger des SCHIFFES so massiert an einer Stelle leben würden.«
    »Du sagst ›man‹ ist der Meinung. Was ist deine Meinung, Marc?«
    Seine Meinung …? »Ich bin nicht ganz sicher …«, hörte er sich sagen. Hatte er überhaupt eine eigene Meinung? Seine Stimmung, eben noch durch die konkrete Gegenwart des Mädchens erfrischt, angeregt, sank jäh. Seine Furcht, Urteile zu fällen, Entscheidungen zu treffen, Konsequenzen zu ziehen und sie zu verteidigen, waren, wie die Bemerkung Tannes zeigte, nicht allein ihm bewußt. War diese Furcht, einen Standpunkt einzunehmen und ihn gegenüber Andersdenkenden zu behaupten, eine Furcht, etwas von sich selbst zu verraten, ein Teil seines argwöhnisch behüteten Innern preiszugeben und sich dadurch der »feindlichen« Umwelt schutzlos ausgeliefert zu sehen? Oder war es ganz einfach Ausdruck einer allgemeinen Lebensangst, deren Motive jenseits des Vorhangs schlummerten, der seine Kindheit verbarg?
    Unbewußt zog Marc das Mädchen näher zu sich heran, während sein Leben in schnellen Bildern an seinem inneren Auge vorbeiflog.
    Der Beginn war wie ein graues Wallen, aus dem hier und da schemenhaft Inseln der Erinnerung auftauchten: ein weißes, gütiges Gesicht, große, etwas schwermütige Augen, ein schweigender Mund: die
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