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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
Autoren: Nicole C. Vosseler
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Pizzakarton die Abseitsregel erklärten. »Du bist doch auch immer gern laufen gegangen.«
    Ich zuckte mit den Schultern und konzentrierte meine ganze Aufmerksamkeit darauf, die Spitze meines Stiefels in den Winkel zwischen Fahrersitz und Mittelkonsole zu bohren. Früher war eben früher und jetzt war jetzt. Früher waren Mam und ich manchmal sonntagvormittags in unsere Joggingklamotten und Laufschuhe gestiegen und hatten mit im selben Takt hin- und herpendelnden Pferdeschwänzen eine Runde am See gedreht, aber nachdem sie das nicht mehr konnte, hatte ich auch keine Lust mehr dazu gehabt.
    »An der Jefferson High kannst du zwischen einer Menge Sportarten wählen«, hörte ich Ted neben mir sagen. »Vielleicht findest du etwas, das dir Spaß macht.«
    Jefferson High war ein schlechtes Stichwort. Ein ganz schlechtes. Bisher hatte ich erfolgreich verdrängt gehabt, dass ich hier auch zur Schule gehen musste, und der Gedanke, in ein paar Tagen als die Neue dort aufzuschlagen, ließ mich noch tiefer auf dem Sitz hinabrutschen. Hastig kramte ich mein Handy aus dem Rucksack, schaltete es ein und suchte ein Netz. Es vibrierte in meiner Hand und auf dem Display war ein kleiner Briefumschlag zu sehen.
    Von: Lukas
    Guten Flug! Lass mal von dir hören! XOXO
    Mein Herz machte einen kurzen Satz und krampfte sich dann zusammen. Am Tag vor Heiligabend hatte ich Lukas das letzte Mal gesehen, dann war er wie jedes Jahr in den Weihnachtsferien mit seiner Familie zum Skilaufen in die Berge gefahren. Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals und meine Hand zitterte.
    »Alles okay?«, fragte Ted.
    »Klar«, würgte ich hervor. Julia hatte sich verplappert, als ich mich am Tag vor meinem Abflug von ihr und Sandra verabschiedete; mit hochrotem Kopf hatte sie bang abgewartet, wie ich darauf reagieren würde, dass Lukas sich in der Woche vor Weihnachten gleich zweimal mit Svenja aus der Parallelklasse getroffen hatte. In unserem Café. Ich konnte es ihm eigentlich nicht mal übel nehmen; es ist nicht besonders spaßig, eine Freundin zu haben, deren Mutter gerade stirbt. Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr mit ihm und den anderen abhängen oder Filme anschauen, nicht mehr mit Lukas auf seinem Bett herumlungern und Musik hören, weil mich jeder Ton aus den Boxen, jede Umarmung und jeder Kuss im nächsten Moment hätte in Stücke gehen lassen. Vor allem konnte ich nicht von ihm verlangen, zwei Jahre auf mich zu warten und so lange die laut Internet exakt 9.383,704 Kilometer zwischen uns mit E-Mails, SMS und Skype zu überbrücken. Ich wusste ja aus eigener Erfahrung, wie wenig das taugt, um einem auch nur eine Illusion von Nähe vorzugaukeln.
    »Ist wirklich alles gut bei dir?« Ted musterte mich, seine Stirn in besorgte Falten gelegt.
    Ich starrte ihn finster an. Ja, sicher, alles bestens! Abgesehen davon, dass Mam nicht mehr da ist und du mir jetzt noch den letzten Rest, der von meinem Leben übrig geblieben ist, kaputt machst.
    »Yapp«, gab ich patzig zurück. Ein erleichtertes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und er streckte den Arm zu mir herüber. Mit einem Ruck brachte ich mein Knie aus seiner Reichweite und quetschte mich so weit in die hinterste Ecke des Rücksitzes, wie es der Gurt zuließ. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ted sich abwandte und sich mit einem tiefen Atemzug durch die Haare fuhr.
    Ich dachte an Lukas. An die Art, wie er sich mit der flachen Hand über sein blondes, stoppelkurzes Haar rubbelte, wenn er verlegen war, und einen dabei mit seinen grauen Augen von unten herauf anschielte. An sein Grinsen, das immer ein wenig schief geriet und dadurch doppelt lässig rüberkam, und wie sich sein Gesicht konzentriert zusammenzog, wenn er auf seinem Skateboard Anlauf für einen seiner Tricks über Stufen, Mauersimse und Parkbänke nahm, bevor seine Miene in ein triumphierendes Strahlen umschlug. Nichts als Einzelheiten fielen mir ein; Bruchstücke, die kein komplettes Ganzes ergaben, wie ein in der Sonne ausgebleichtes Foto, dessen Farben an manchen Stellen zu unscharfen Klecksen zerflossen waren. Und ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, wenn er mich im Arm hielt und küsste. Wenn ich genauer darüber nachdachte, hatte ich überhaupt schon lange nichts mehr gefühlt. Nicht so richtig jedenfalls. Konnte man Gefühle einfach vergessen?
    Ungefähr siebenunddreißig Mal setzte ich zu einer SMS an Lukas an, aber sobald ich ein paar Worte eingetippt hatte, kamen sie mir auf dem
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