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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
Autoren: Nicole C. Vosseler
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überzeugt, sie hat von Anfang an geahnt, wie ähnlich ich Ted einmal sehen würde. Mein Haar, das unter der Mütze hervorschaute und über meine Schultern fiel, war lang und glatt wie das von Mam, bevor sie es sich kurz vor der OP abrasiert hatte; durch die Bestrahlung und die Chemo wäre es sowieso ausgefallen. Doch während ihres von dunklem Mahagonibraun gewesen war, hatte meines eine Farbe irgendwo zwischen Blond und Karamell mit einem Schuss Kupfer. Wie Bernstein – Amber . Wie das von Ted, das er immer noch so trug wie auf den Fotos aus den Neunzigern, an den Seiten zu kurz, im Nacken zu lang und ständig ein bisschen verstrubbelt. Hoffnungslos altmodisch war auch seine Brille mit den übergroßen Gläsern, Modell Bill Gates, und wenn er mich dahinter anblinzelte, so wie jetzt, erinnerte er an eine verwirrte Eule.
    »Ich weiß, es fällt dir schwer«, sagte er behutsam. Seine Augen, von demselben dunklen Blau wie meine, waren gerötet. Mehr als einmal hatte ich beobachtet, wie er sich mit dem Zeigefinger unter die Brillengläser fasste und einzelne Tränen wegwischte; dabei hatten Mam und er sich getrennt, als ich noch nicht einmal ein Jahr alt gewesen war. Er zog eine Hand hervor und streckte sie nach meiner Schulter aus, die ich sofort zurückriss. Nichts wusste er über mich, gar nichts. Woher denn auch?
    In seinem länglichen, fast rechteckigen Gesicht zuckte ein Muskel, und seine Finger verharrten noch einen Augenblick unschlüssig in der Luft, bevor er sie wieder in der Hosentasche versenkte. »Wir müssen leider los.«
    Ich nickte mechanisch und bückte mich, um meinen Rucksack vom Boden aufzuheben und zu schultern. Als ich mich aufrichtete, warf ich noch einen Blick über die Grabkreuze hinweg.
    Von der alten Frau war nichts mehr zu sehen.
    Mit gesenktem Kopf trottete ich Ted hinterher, den abschüssigen Weg zwischen den Grabfeldern hindurch, und der Schnee gab unter unseren Sohlen ein gummiartiges Knirschen von sich. Hinter dem schmiedeeisernen Tor des Friedhofs wartete Gabi auf uns, Mams beste Freundin und meine Patentante, die ein Teil unseres Lebens gewesen war, solange ich zurückdenken konnte. Schneeflocken glitzerten in ihren braunen Locken. Die Hände in den Taschen des bordeauxroten Wollmantels, lehnte sie an ihrem klapprigen Toyota, mit dem sie uns zum Flughafen fahren würde.
    Weil mein Vater, den ich kaum kannte, mich einfach aus meiner Umgebung herausriss wie irgendein Unkraut im Garten und mich auf seine Seite der Welt mitnahm.
    Nach San Francisco.

TEIL EINS
    The City by the Bay
    Der Verstand ist eine Welt für sich,
    in der ein Himmel zur Hölle werden kann und eine Hölle zum Himmel.
    JOHN MILTON

1
    Die Räder meines Trolleys klackerten über den glatten Boden der Flughafenhalle, durch die ich Ted hinterherstolperte. Eine Schar asiatischer Flugbegleiterinnen in gemusterten Wickelröcken und passenden Blusen, jede ein Trolleyköfferchen im Schlepptau, trippelten kichernd und schnatternd in ihren Riemchensandalen an uns vorbei, das lackschwarze Haar zu einer Hochsteckfrisur festbetoniert und geschminkt wie für das Cover eines Hochglanzmagazins.
    Nach elf Stunden im Flieger, in denen ich abwechselnd vor mich hingedöst und sinnlos aus dem Fenster gestarrt hatte, weil mir der ausklappbare Minibildschirm nur die Wahl zwischen Liebesschnulzen, hirnlosem Actiongeballer und irgendwelchem Kinderkram ließ, fühlte ich mich wie von einem Bulldozer überfahren. Ich war noch nie so weit geflogen, nur mit Mam in die Türkei und nach Ägypten. Jeder Knochen, jeder Muskel tat mir weh und mein Kopf war wie mit Watte ausgestopft. Noch dazu hatte die seltsam aussehende quietschgelbe Masse heute Morgen, die wohl Rührei hätte sein sollen, ein pelziges Gefühl in meinem Mund hinterlassen, das sich auch gegen Kaugummi und diverse Dosen Cola light widerstandsfähig zeigte.
    Die Wärme von Gabis Umarmung, als sie sich in der Abflughalle von mir verabschiedete, und der pudrige Duft ihres Parfüms, den ich noch einige Stunden nach dem Abheben an mir erschnuppern konnte, waren längst verflogen. Du wirst dich schneller dort einleben, als du jetzt denkst. In ein paar Wochen sieht alles schon viel freundlicher aus, glaub mir! , hatte ich noch ihre Stimme im Ohr. Das war typisch Gabi, für sie war das Glas immer halb voll statt halb leer. Tschüss, mein Liebes! Mach’s gut dort drüben! Schick mir eine SMS , wenn ihr gelandet seid! Und mail mir bald oder ruf an! Müde hatte sie ausgesehen; unter ihren
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