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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
Autoren: Nicole C. Vosseler
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Display dumm und armselig vor, und ich löschte alles wieder. Schließlich verschob ich das Ganze auf morgen, simste Gabi kurz, dass ich gut gelandet war, danach auch noch Julia und Sandra. Dann machte ich es wie Ted und sah schweigend zum Fenster hinaus.
    Die Autobahn ( Highway? Freeway? Keine Ahnung, worin der Unterschied bestand) zwischen braunen oder grün bewachsenen Hügeln und dem immer wieder aufblinkenden Wasser sah genauso aus wie in amerikanischen Filmen oder Serien, genauso breit, genauso vielspurig und von genauso vielen überdimensionierten Autos befahren. Die Verkehrsschilder wie das auf der Spitze stehende gelbe Quadrat mit den schwarzen Pfeilen, die grünen Tafeln mit der weißen Schrift – Third St, Civic Center, Bay Bridge, Downtown SF oder Daly City –, all das kannte ich aus dem Fernsehen, aber es war mir nicht vertraut. Zwischen den Gewerbegebäuden, Hotelburgen und riesigen Baustellen, die die Straße säumten, kam ich mir komplett verloren vor.
    Vor uns tauchte in einer Senke eine Skyline auf, ein Säulenwald nüchtern grauer Wolkenkratzer, hinter denen sich eine Dunstwolke zusammenballte, und das Taxi jagte in die Stadt hinein.
    Wie in einem Slalom bahnte sich unser Fahrer seinen Weg an den anderen Autos vorbei, indem er andauernd zackig die Spur wechselte, sodass ich auf dem Rücksitz hin und her geschleudert wurde und immer wieder mit der Schulter gegen die Autotür stieß. Ich atmete auf, als der Verkehr dichter wurde und unser Taxi zu einer zahmeren Fahrweise zwang.
    Moderne Glasfassaden wechselten sich mit mehrstöckigen Gebäuden aus braunen oder rötlichen Backsteinen ab, die mich mit ihren Feuerleitern an Fotos von amerikanischen Großstädten aus den Goldenen Zwanzigern erinnerten. Ein Eindruck, den die großflächigen Werbeplakate an den Fassaden gleich wieder zunichtemachten, ebenso wie die bunten Wirbel von Graffitis und die zahllosen kreuz und quer verlaufenden Kabel und Leitungen, die sich zu einem lockeren Netz hoch oben über den Straßen verflochten. Überall hingen noch Lichterketten und Lamettagirlanden, standen geschmückte Weihnachtsbäume, Rentiere und Weihnachtsmänner herum, was für mich bei diesem Wetter völlig daneben wirkte.
    Ich dachte an die Häuser und Straßen, zwischen denen ich mein ganzes Leben verbracht hatte. An den Kindergarten mit den alten Kastanien und an den Tag, an dem ich mich dort mit Julia gestritten hatte, wer zuerst auf die Schaukel durfte; nachdem wir uns geeinigt hatten, waren wir unzertrennlich gewesen. An den Spielplatz mit dem Klettergerüst, auf den Mam mit mir sonntagnachmittags gegangen war, und an die italienische Eisdiele mit dem besten Pistazieneis EVER . An den Gehweg zwischen unserem Zuhause und der Bäckerei an der Ecke, auf dem ich mit meinem kleinen grünen Fahrrad zum ersten Mal ohne Stützräder gefahren war. An meinen ersten Schultag in dem alten Jugendstilbau der Grundschule und an die Tage im Betonbunker des Gymnasiums, den auch die bunt lackierten Fensterrahmen und Türen nicht freundlicher machten, und wie Mam und ich jede Woche in den großen Supermarkt einkaufen gefahren waren. Immer schon donnerstags, weil Mam für die Freitage und Samstage die meisten Aufträge bekam, Hochzeitsfotos und Taufbilder. Erinnerungen an eine Zeit, in der meine Welt noch in Ordnung gewesen war.
    Mit etwas Glück würde ich vielleicht in den Sommerferien nach Hause fliegen; wenn ich Pech hatte, auch erst wieder in zwei Jahren, mit achtzehn, sobald ich endlich selbst über mich bestimmen konnte. Noch 704 Tage bis dahin, das hatte ich vor dem Abflug ausgerechnet. 704 Tage in einer anderen Stadt, einem anderen Land. Auf einem anderen Kontinent.
    Vor dem Hintergrund der Straßenschluchten tauchte in der Scheibe mein Spiegelbild auf. Mein ovales Gesicht mit den leicht auseinanderstehenden Augen und dem großen Mund. Eine blassere Ausgabe von Mams Gesicht auf uralten Fotos, als sie ungefähr in meinem Alter gewesen war. Bevor ihres mit den Jahren kantiger wurde, dafür aber den Kontrast zu dem spitzen Kinn und der ein bisschen kräftig geratenen Nase ausglich, der mich an meinem störte. Bevor die Krankheit in den letzten Monaten noch den letzten Rest Weichheit von Mams Gesicht genagt und nur scharfe Knochen und tiefe Höhlungen übrig gelassen hatte. Fremd kam mir mein Spiegelbild im Autofenster vor, seltsam verzerrt und durchsichtig. Als ob es mich gar nicht mehr wirklich gab.
    Das Taxi hielt an einer roten Ampel, und während der Fahrer im
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