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Klostergeist

Titel: Klostergeist
Autoren: Silke Porath
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Tag 1
    Hier ist Radio Donauwelle, euer Sender für den Kreis Tuttlingen. Für euch am Mikro eure Nachteule Regina. Es ist 4.45 Uhr, aber wir halten euch wach! An alle Nachtschwärmer da draußen: Geht nach Hause, heute wird ein grauer Tag, ideal fürs Sofa und euer Radio. Wer jetzt aufstehen muss: Wir machen euch fit für den Tag! In der Volkshochschule beginnt heute der Acrylkurs für Einsteiger, pünktlich um neun, Pinsel und Wasserbecher nicht vergessen! Passend dazu spielt euch eure Donauwelle jetzt ›Paint it Black‹! Zuvor noch ein Hinweis: In Rietheim steht ein Blitzer in Höhe der alten Tankstelle. Also Fuß vom Gas und Lautsprecher an für die Stones!
     
    Pater Pius fröstelte, als er sich mit einem tiefen Seufzen aus dem Bett schälte. Der Digitalwecker auf seinem Nachttisch piepste penetrant. Die roten Leuchtziffern zeigten ›4:45‹ an. Pius tastete nach der Austaste. Himmlische Ruhe breitete sich in der Klosterzelle aus. Am liebsten hätte der Pater sich wieder in die Kissen zurückfallen lassen. Obwohl er nun schon seit über 30 Jahren im Brüderlichen Orden lebte – an das Aufstehen zu nachtschlafender Stunde hatte er sich nie gewöhnt.
    Pius knipste die kleine Lampe an, die neben dem Bett stand. Im Schein der Funzel erkannte der Pater den Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand. Den Stuhl, auf den er am Vorabend achtlos seine Kutte geworfen hatte. Von der Zimmerecke lächelte ihm mit gequälter Miene die hölzerne Figur des Herrn Jesus Christus am Kreuz zu.
    »Du bist auch noch müde, gell?«, murmelte Pius und nickte dem Kruzifix zu. Dann schlüpfte er in die Pantoffeln, die vor dem schmalen Bett standen. Seine Knie schienen zu knirschen und zu ächzen, als er sich schließlich erhob. Der Pater brummte grimmig – musste der liebe Herrgott ihn jeden Morgen mit einem Zipperlein begrüßen und ihn so an seine 63 Lebensjahre erinnern?
    »Dein Vater, Herr Jesus, kann grausam sein«, dachte der Pater laut, und erschrak sogleich ob seiner Anmaßung. Schnell bekreuzigte er sich und bat den Herrgott im Stillen um Verzeihung. Für einen Moment fühlte er sich wieder wie der kleine Junge, der der Mutter widersprochen hatte. Sie würde es dem Vater sagen und der würde ihn oder seinen Bruder am Abend zur Rede stellen. Oder die Hand erheben, sodass ihm, dem kleinen Jungen, nur die Flucht in seine Traumwelt blieb. Und der Blick zum Kruzifix an der Wand des Wohnzimmers. Der hölzerne Heiland lächelte. Immer. Auch dann, wenn der Vater schimpfte. Pius rieb sich die Augen, um den letzten Schlaf zu vertreiben.
    Vom Gang her drang ein schlurfendes Geräusch herein.
    »Der gute Josef ist wieder der Erste«, brummte Pius und schälte sich aus seinem Schlafanzug. Sein Blick fiel auf seine Silhouette, die sich im Fenster spiegelte. Draußen war es stockfinstere Nacht und der Pater konnte nur erahnen, wo der Turm der Dreifaltigkeitsberg-Kirche in den Himmel ragte. Seit der Gemeinderat von Spaichingen auf Sparkurs gegangen war, durfte das Kreuz aus Neonröhren, welches auf der Turmspitze prangte und den Gläubigen und anderen Menschenkindern in Dunkelheit den Weg zum Berg wies, nur noch bis Mitternacht brennen.
    Pius schlüpfte in seine Kutte und warf einen kurzen Blick auf seinen Schreibtisch. Briefe – die meisten ungeöffnet – und Bücher stapelten sich zu chaotischen Türmen, die jeden Moment in sich zusammenzustürzen drohten.
    »Warum steigst du nicht herab und sagst den Menschen, sie sollen weniger schreiben?«, flüsterte Pius dem Kruzifix zu. »Dann hätte ich mehr Zeit für die Seelsorge selbst.« Pius wartete nicht auf eine Antwort. Manchmal, wenn er ganz ruhig war, schickte ihm dieser Christus dort aus der Zimmerecke Gedanken und Eingebungen. Doch zu so früher Stunde schien auch das Kruzifix noch zu schlafen.
    Pius ging zum Waschbecken, das hinter einem Vorhang verborgen in der Zimmerecke angebracht war. Rasch putzte er sich die Zähne und wusch sein Gesicht mit eiskaltem Wasser. Das Handtuch kratzte an den Bartstoppeln, doch für eine Rasur blieb ihm keine Zeit mehr. In drei Minuten würden die Glocken zur Laudes läuten. Der Pater nahm den hölzernen Rosenkranz vom Wandhaken und legte ihn sich im Hinausgehen um den Hals. Dann hastete er den spärlich beleuchteten Gang entlang, die drei Treppen hinunter, durch den unbeheizten Flur und hinaus auf den Hof.
    Sein Atem puffte in kleinen Wölkchen aus dem Mund, als Pius über den Kiesweg zur Kirche eilte. Die schwere Tür am Seitenschiff knarzte,
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