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In allertiefster Wälder Nacht

In allertiefster Wälder Nacht

Titel: In allertiefster Wälder Nacht
Autoren: Amy McNamara
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Frühling kommen.«
    Eine Sekunde lang halte ich den Atem an. Es wird sie verletzen, dass ich den Besuch so weit hinausgeschoben habe. Oder vielleicht versteht sie den Wink auch … und lässt es ganz.
    »Verstehe«, sagt sie in förmlichem Ton.
    Beleidigt.
    So eine Tochter bin ich. Jetzt.
    »Nun, Wren. Ich habe mit deinem Vater geredet und wir finden …«
    Ich unterbreche sie. »Du hast mit Dad geredet?« Unmöglich. »Am Telefon?«
    Sie seufzt.
    »Also, nein. Wir haben gemailt. Es ging natürlich um dich.«
    Meine Mutter hat nicht wieder geheiratet. In der achten Klasse war da so ein Typ, aber den hat sie nicht mal ins Haus gebeten. Ist nicht lange gelaufen. Sie behauptet, sie brauche keinen anderen Mann in ihrem Leben. Sie habe ihre Arbeit und sie habe mich.
    »Dein Dad hat mir erzählt, dass du lebst wie eine Einsiedlerin.«
    Und los geht’s.
    »Er hat gesagt, du würdest nicht an etwas arbeiten.« Sie geht sanft mit mir um. »Den größten Teil deiner Zeit würdest du damit verbringen, durch den Wald zu joggen. Und du würdest nicht mal den Versuch machen, da oben Freunde zu finden.«
    Schweigen.
    Sie seufzt.
    »Sieh mal, Schatz, ich hab dich gehen lassen, weil ich dachte, ein Tapetenwechsel würde dir guttun, aber, Wren, du hast jetzt deine Auszeit gehabt. Je länger du es hinausschiebst, dein Studium zu beginnen, desto schwieriger wird es für dich werden. Wir waren uns einig …«
    Wir waren uns gar nicht einig. Ich hatte eine Wahl getroffen.
    »Mom …«
    Sie schneidet mir das Wort ab. »Ich hab die Leute von der Verwaltung in Amherst angerufen, und sie sind immer noch bereit, dich Ende Januar aufzunehmen.«
    »Mom«, sage ich etwas heftig, »ich hab beschlossen, hierherzugehen. Ich. Das war meine Entscheidung. Wir haben uns darauf geeinigt, uns nicht darüber zu streiten. Ich gehe nicht auf die Uni. Noch nicht. Ich kann es nicht.«
    Ich höre sie atmen. Das mach ich häufig seit Mai. Hören, wie Leute atmen, während sie darauf warten, dass ich etwas sage.
    Sie unternimmt einen neuen Versuch. Ihre Stimme ist verhalten heiter. Als ob vielleicht irgendwas anders, besser werden würde, wenn sie einen anderen Tonfall anschlägt.
    »Diese Redakteurin vom Focal Point hat angerufen und gesagt, dass sie dich dein Praktikum gern beenden lassen würde, solltest du vor Semesterbeginn in die Stadt zurückkommen.«
    Der Focal Point . Fast lache ich los. In Bly, meiner Schule, lief so ein Projekt mit dem Titel »Vorstoß«. Mit den entsprechenden Zensuren konnte man die Prüfungen vorziehen und sich für den Monat Mai für irgendein Praktikum bewerben. Dieses Praktikum sollte uns Gelegenheit geben, über die Welt der Schule hinauszusehen, bevor sie uns alle in das nächste Gehege sperrten. Ich hatte Meredith erzählt, ich würde ein Projekt umsetzen, das ich »Menü Anonym« nennen wollte. Ich würde eine Annonce bei Craigslist reinsetzen und Fremde zum Mittagessen einladen. Auf meine Rechnung. Die einzige Anforderung war, dass ich das Stativ aufstellen und ein Foto machen durfte, während wir aßen. Ich dachte, das wäre cool. Mir gefiel die Vorstellung, wie unbehaglich es sein würde, mit Fremden zu Mittag zu essen und diesen Ausdruck auf ihren Gesichtern einzufangen. Meredith meinte, ich sei pervers.
    Tatsächlich war mein »Vorstoß« ein Praktikum beim Focal Point , einer Kunstzeitschrift mit Sitz in einem dieser Gusseisengebäude in SoHo. Das Büro lag in einem Raum mit hohen Decken, in der obersten Etage. Bei jedem Stockwerk ruckelte der klapprige Fahrstuhl und ich arbeitete an einem Fenster mit Blick auf den Innenhof. Wenn man den Blick ein wenig verschwimmen ließ und nicht nach unten schaute, war da nur dieses diffuse helle Licht aus dem Himmel, das in einen riesigen abgeschiedenen Raum fiel. Ich fand es wunderbar.
    Mein Praktikumsplatz war in der Herstellung, da arbei tete ich mit einer der Redakteurinnen zusammen. Die Arbeit war viel technischer, als ich erwartet hatte, im Wesentlichen lernte ich was übers Layouten, aber ich habe jeden Tag die unglaublichsten Fotos angeguckt. Das war ein großer Kompromiss für meine Mutter und mich gewesen. Sie hatte das Gefühl, ich würde etwas Praktisches lernen und wie das so lief in der Welt, und ich konnte meine Zeit damit verbringen, mir von morgens bis abends Kunst anzuschauen.
    So war das damals.
    »Ich geh nicht zurück zum Focal Point, Mom«, sagte ich. Mein Vorstoß scheint tausend Jahre zurückzuliegen.
    »Mamie, ganz ehrlich, was machst du eigentlich da
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