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In allertiefster Wälder Nacht

In allertiefster Wälder Nacht

Titel: In allertiefster Wälder Nacht
Autoren: Amy McNamara
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oben?« Sie ist es leid, immer wieder dieselbe Frage zu stellen.
    Ich bin im Nirgendwo.
    »Schätzchen, die beste Kur gegen Schwermut ist Beschäftigung.« Ihre sanfte Stimme. Nicht die Dauer-Heiterkeit.
    Familienregel: Immer am Ball bleiben, wenn alles auseinanderbricht. Und wenn du, der Himmel möge es verhüten, den Ball doch fallen lässt, dann pack ihn und wirf ihn wieder in die Luft, als ob gar nichts passiert wäre.
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
    Also sage ich nichts.
    So hat das angefangen, damals. Als ich nicht gesprochen habe. Es war, als hätte ich eine schwere Wolldecke über mich gezogen. All diese sich bewegenden Münder haben mich gefragt, ob ich sie hören könne, mir erzählt, mir sei nichts passiert, Patrick sei tot. Dann die kühle Hand meiner Mutter, die mir die Haare aus dem Gesicht gestrichen und geflüstert und geflüstert hat, beinahe wie ein Schlaflied in meinem Ohr. Wie ein Anker auf den dunklen Meeresboden bin ich in mein eigenes Schweigen gefallen. Der Schlamm so still und all das schwere Wasser darüber. Worte sind überwiegend sinnlos. Ich ließ die Verbindung zwischen Verstand und Mund los und aus Chaos wurde Friede.
    Mein Schweigen macht sie nervös. Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil sie meinetwegen besorgt ist, aber ich bin leer. Ich hab nichts anderes anzubieten.
    »Mamie?«, sagt sie. »Bitte, lass das … bist du da?«
    »Ja doch, Mom«, sage ich leise. »Aber ich bin jetzt Wren, okay? Bitte sag nicht Mamie zu mir.«
    Noch ein Seufzer von ihr.
    »Oh, ja, nun, tut mir leid, Wren. Es ist schwer. Ich hab dir den Namen gegeben, wie du weißt. Ich werd mich bemühen.«
    Ich wälze mich auf die andere Seite. Die Laken müffeln. Ich hab alles schleifen lassen. Ich muss das erledigen. Heute. Wäsche.
    Sie macht eine kurze Pause, dann sagt sie: »Meredith hat angerufen. Sie kommt über die Feiertage nach Hause. Sie will wissen, ob sie dich besuchen kann.«
    »Nein. Ausgeschlossen.«
    Meine Antwort darauf kommt schnell. Ich kann sie nicht sehen. Nicht mit ihr reden. Wie könnte ich mich mit Meredith treffen? So als ob nicht alles anders, nicht alles kaputtgegangen wäre? Sie steht mir zu nahe. Sie wird mich wieder reinziehen. Bei dem Gedanken wird mir schlecht.
    »Na, sie hat wieder um die Adresse deines Vaters gebeten. Sie will dir Briefe schicken«, sagt Mom.
    Briefe. Unsere Briefe. Im Sommer nach der zehnten Klasse haben Merediths Eltern mit der Tradition gebrochen und sie den Sommer über nach Italien geschickt. Da hat Mom die Gelegenheit beim Schopf gepackt und mich zu einem Kurs in der Stadt gezwungen, über Wirtschafts- und Sozialpolitik. Genau mein Ding. Streber in Khakihosen und Polohemden, die sich auf ihren künftigen Schreibtisch in Washington vorbereiteten. Absoluter Albtraum.
    Meredith hatte irgendwo was über diese alten Dichtertypen gelesen, die sich wöchentlich geschrieben hatten, ihr Leben lang. Wir dachten, wenn die das konnten, konnten wir das auch. Die Briefe waren meine Rettung. Ein Mal die Woche, immer mittwochs mussten sie abgeschickt werden.
    Wir blieben dabei, als sie wieder nach Haus kam. Obwohl wir uns andauernd sahen. Irgendwie war das wie Tagebuchschreiben, aber ein Tagebuch, das mit dir redete, dich wirklicher wahrnahm, als du dich selber sahst. Jeden Mittwoch, egal, was auch war, egal, wie viel wir zu tun hatten.
    Wir machten Phasen durch. Wir stellten uns Aufgaben, nur Kalligrafie, nur Ausschneiden und Aufkleben wie Erpresserschreiben. Wir wetteiferten darum, den coolsten Umschlag zu gestalten. Hauptsächlich schrieben wir auf unseren Laptops. Aber die Briefe mussten mit der Post verschickt werden. Das gehörte dazu. Ausdrucken und abschicken. Alte Schule. Und sie durften nicht an jemand anders weitergereicht werden.
    Sie waren unser Geheimnis, dem Rest der Welt vorbehaltene Vertraulichkeiten. Manchmal stritten wir auf den Seiten über Dinge, über die wir nie gewagt hätten, von Angesicht zu Angesicht zu reden.
    »… ich will das wirklich nicht gern ablehnen«, sagt Mom. »Das ist doch ein völlig vernünftiges Ansinnen.«
    Ich bin still. Geh im Geist wieder zurück in die Stadt, in mein kleines Zimmer in unserem Haus. Auf dem Bett, mit einem Brief von Mer. Ich schreib meinen Brief an sie.
    Ich kann nicht mehr an irgendwas von all dem denken, ohne zu wissen, was geschehen ist. Was daraus geworden ist. Ich zieh die Knie ans Kinn, rolle mich zusammen.
    »Mamie?«
    »Mom«, sage ich. »Bitte, gib ihr die Adresse nicht.« Ich bin müde. Erledigt.
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