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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse
Autoren: Martha Grimes
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    Die Pforten des Royal Shakespeare Theatre entließen die Zuschauer wieder einmal in diesen hinterhältigen Regen, der immer genau das Ende der Vorstellungen abzupassen schien. Heute abend war Wie es euch gefällt aufgeführt worden, und den Leuten stand ins Gesicht geschrieben, daß sie noch nicht zu sich gefunden hatten, als würde infolge einer magischen Verwandlung die bukolische Idylle des Waldes von Arden auch draußen im Dunkeln und im Nieselregen weiter funkeln und glitzern.
    Die Leute strömten auf die Gehsteige und in die verwinkelten Gassen, um dann in den geparkten Autos und den Pubs zu verschwinden. Das Licht der Scheinwerfer um das Theater herum fiel wie glänzende Münzen auf das Wasser. Als es erlosch, war es, als hätte ein Bühnenarbeiter mit einem Schalterdruck den Fluß ausgeknipst.
    Der «Schwarze Schwan» – oder die «Torkelnde Ente», je nachdem, von welcher Seite der angehende Gast sich näherte – lag strategisch sehr günstig direkt gegenüber dem Theater. Das Wirtshausschild mit den zwei Tieren (fliegender Schwan auf der einen Seite, betrunkene Ente auf der anderen) war verantwortlich dafür, daß Ortsfremde, die sich bei dem einen verabredet und das andere vorgefunden hatten, einander zuweilen verfehlten.
    Fünf Minuten nach dem letzten Vorhang war die «Ente» zum Brechen voll mit Leuten, die bis zur Polizeistunde noch möglichst betrunken werden wollten. Die Menge quoll aus dem Inneren der Kneipe bis auf die ummauerte Terrasse. Der Zigarettenrauch machte die Nacht so undurchdringlich wie einer dieser guten alten Londoner Nebel. Es war Sommer, und es wimmelte nur so von Touristen; die meisten Stimmen hatten einen amerikanischen Akzent.
     
    Eine der Amerikanerinnen, Miss Gwendolyn Bracegirdle, die auf der Veranda ihrer riesigen, mit rosafarbenem Stuck verzierten Villa in Sarasota, Florida, nie mehr als ein Schlückchen Sherry zur Zeit zu sich nahm, stand mit einem Bekannten in einer dunklen Ecke der Terrasse und ließ sich vollaufen.
    «Oh, mein Lieber, nicht noch einen! Das ist mein zweiter – wie nennt man das hier?»
    «Gin», lachte ihr Begleiter.
    «Gin!» Sie kicherte. «Wirklich, ich kann nicht mehr!» Aber sie hielt ihr Glas so, als würde sie bestimmt noch einen schaffen.
    «Tun Sie einfach so, als wäre es ein sehr trockener Martini.»
    Miss Bracegirdle kicherte wieder, als ihr das Glas aus der Hand genommen und wieder aufgefüllt wurde. Für Gwendolyn Bracegirdle – wenn nicht für die ganze Menschheit – war es ein Riesenschritt von süßem Sherry zu Martinis.
    Vage lächelnd ließ sie ihren Blick über die anderen Gäste auf der Terrasse schweifen, aber niemand lächelte zurück. Gwendolyn Bracegirdle war nicht der Typ, den man sich einprägt, so wie sie sich die anderen einprägte. (Wie sie ihrem Begleiter erklärt hatte – wenn sie eine besondere Begabung besaß, dann war das ihr Gedächtnis für Gesichter.) Gwendolyn selbst war von unscheinbarem Äußeren – eine kleine Pummelige mit Dauerwellen; das einzige, wodurch sie an diesem Abend herausstach, war ihr perlenbesetztes Brokatkleid. Ihr Blick fiel auf eine ältere, hagere Frau, deren feuchte, kummervolle Augen sie an ihre Mutter erinnerten. Das ernüchterte sie etwas; Mama Bracegirdle hielt nichts von Spirituosen, es sei denn, sie selbst trank sie, aus medizinischen Gründen natürlich. Mama hatte eine Unmenge von Wehwehchen. Im Augenblick (die fünf Stunden Zeitunterschied mitgerechnet) süffelte sie wahrscheinlich auf der Veranda des Rosaroten Horrors; denn als ein rosaroter Horror erschien das Haus der inzwischen an Kalk, Flechtwerk und Strohdächer gewöhnten Gwendolyn aus dreitausend Meilen Entfernung.
    Als ihr ein weiterer eisgekühlter Drink in die Hand gedrückt wurde und ihr Bekannter sie anlächelte, sagte Gwendolyn: «Wie um Gottes willen soll ich bloß mein Zimmer wiederfinden.» Ein wirklich trostloses Zimmer dazu: oberster Stock, Blick auf den Hinterhof, eine klumpige Matratze und ein Waschbecken mit Warm- und Kaltwasser. Das Bad war am Ende des Flurs. Sie hätte sich natürlich etwas viel Besseres leisten können, aber sie hatte sich für das «Diamond Hill Guest House» entschieden, weil es so wahnsinnig britisch war, in einem Bed-and-Breakfast zu wohnen und sich nicht bedienen zu lassen wie die anderen in ihrer Reisegruppe, die im «Hilton» oder anderen teuren Hotels in amerikanisiertem Luxus schwelgten. Gwendolyn war überzeugt davon, daß man sich den jeweiligen Landessitten anzupassen
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