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Imagon

Imagon

Titel: Imagon
Autoren: Michael Marrak
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mich die erste Zeit über bei sich zu Hause. Danach überließ mir Ruono jenes bescheidene kleine Haus, das mir bei meiner ersten Nacht auf Grönland als Unterkunft gedient hatte – und in dem, wie ich später erfuhr, auch Nauna jahrelang mit Anuka gelebt hatte. Nachdem Anuka von Naunas Schicksal und unserer Beziehung erfahren hatte, legte er seine anfängliche Verachtung gegenüber mir und dem, was ich verkörperte, langsam ab. Er überließ mir zudem eine bescheidene Anzahl von Fotos, die er oder seine Freunde in ihrer gemeinsamen Zeit von Nauna geschossen hatten.
    Seither verberge ich mich hier vor den Blicken der Menschen und warte. Offiziell wurde ich ebenso wie DeFries, Chapmann, Soerensen und all die anderen Vermissten für tot erklärt. Nun, in vielerlei Hinsicht bin ich es sogar.
    Mit einer Mischung aus Unbehagen und Sarkasmus denke ich an meine symbolische Beerdigung. An das leere Grab, das man irgendwo auf dem Nyk0binger Friedhof angelegt hat, und an das Holzkreuz, das meinen Namen trägt. Gewiss ist das Grab mit Blumen geschmückt, und vielleicht pflegt meine Ex es sogar und kommt dafür auf, dass bald ein Grabstein an mich erinnern wird. Wobei – ihr ist zuzutrauen, dass sie überhaupt nicht an der Beerdigung teilgenommen hat. Meine Ex kann es sich in ihrem Job nicht leisten, zu trauern. Und um ehrlich zu sein: In gewisser Weise gibt es auch keinen Grund dazu …
    Knapp drei Monate sind seit meiner Rückkehr in die Welt der Lebenden vergangen. Drei Monate, in denen ich kaum einen Schritt aus diesem Haus getan habe. Monate, die ich damit verbrachte, mich selbst aufmerksam zu beobachten, in mich hineinzuhorchen, mein Wesen zu belauern, in der ständigen Angst, eine Veränderung wahrzunehmen, die mich endgültig von den Menschen ausgrenzen könnte. Ich fühle keinen Herzschlag, und das Bedürfnis zu atmen entsteht nur beim Sprechen. Alles in mir scheint still zu stehen, und dennoch liegt meine Körpertemperatur weiterhin bei knapp 39 Grad Celsius. Ich verspüre weder Hunger noch Durst, bin nicht einmal fähig, aus purem Genuss Nahrung aufzunehmen oder mein Bewusstsein mit Alkohol zu betäuben, sobald die Erinnerungen zurückkehren; wenn der Wahnsinn Überhand nimmt und ich kurz davor bin, den Verstand zu verlieren, sobald die Träume beginnen und ich Dinge sehe, die jenseits meiner bewussten Erinnerung liegen. Das Bedürfnis zu schlafen ist geblieben. Mehr noch, es nimmt beständig zu, sodass ich inzwischen zwei Drittel des Tages damit verbringe. Die Fähigkeit, währenddessen stundenlang zu träumen, ist zu einer peinigenden Berufung geworden.
    Jene kostbare Zeit, in der ich wach bin, nutze ich, um dies zu schreiben und zugleich die Medien zu studieren. Hansen hat mir ein Fernsehgerät mit Satellitenanschluss ins Haus gestellt und legt mir zudem jeden Morgen zwei oder drei Tageszeitungen vor die Tür.
    Man muss nicht unbedingt ein Nihilist sein, um die Zeichen der Zeit zu deuten. Dass ein neues Zeitalter angebrochen ist, vermag jeder zu erkennen, der nachts zum Himmel empor sieht und das Kreuz des Nordens betrachtet. Seit einigen Wochen ist nicht mehr Sirius der hellste Stern am Firmament, sondern ein Gestirn mit der astronomischen Bezeichnung 37 Gamma Cygnus im Sternbild des Schwans: der Sadr. Die Astronomen sprechen von einer Supernova und rechnen sich ihre Wissenschaftlerköpfe heiß, was die frei gesetzte Gammastrahlung und die heranrasenden Partikelstürme ausrichten würden und wie hoch die Überlebenschance der Menschheit nach dem Kollaps eines achthundert Lichtjahre entfernten Sterns sei.
    Ich kann allen, die darüber beunruhigt sind, versichern: Falls uns je eine dieser Nachwehen erreichen sollte, wird niemand auf diesem Planeten sie mehr wahrnehmen. Sadr erstrahlt nicht im Glanz einer sterbenden Sonne, sondern als Fanal ihrer Rückkehr. In der Nacht vom 6. auf den 7. Juni war der Weitershausengletscher zerborsten und kurze Zeit später eine Unzahl mächtiger Flutwellen durch den Scoresbysund gerollt; Wasserberge, die aussahen, als ob sich unter der Meeresoberfläche gewaltige Körper hinaus in die offene See bewegten. Erst im Morgengrauen waren die Springfluten, bei denen mehr als dreißig Küstenbewohner ihr Leben verloren hatten, wieder verebbt.
    Nun sind sie hier und bereiten sich vor, zurückzuerobern, was ihnen gehört. Noch agieren sie im Verborgenen; in den Tiefen der Ozeane und unter den gewaltigen Eiskappen der polaren Landmassen.
    Seit drei Monaten verfolge ich aufmerksam die
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