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Imagon

Imagon

Titel: Imagon
Autoren: Michael Marrak
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gezogen hatte, noch daran, Bewunderung zu suchen und sein Schicksal zu mystifizieren?
    Die Schneeflocke riss mich in die Wirklichkeit zurück, durchbrach den rotierenden Gedankenstrom in meinem Kopf. Die Bemühungen meiner Fantasie, Naunas delphische Worte zu verstehen, jenem unaussprechlichen Etwas, das sie erblickt hatte und das für alles verantwortlich zu sein schien, eine Gestalt zu geben, es zu lokalisieren. Nur eine einzelne Schneeflocke – und dennoch, ohne dass es mir in diesem Augenblick bewusst wurde, war sie eine Antwort auf meine Frage. Vielleicht sogar Naunas Art und Weise, es mir zu erklären. Irgendwoher.
    Eisprinzessin …
     
    Ich wurde am Morgen des 9. November 1967 in Nik0bing geboren, einem kleinen Küstenort im Norden der dänischen Insel Seeland. November – das ist der Monat, in dem die Blätter von den Bäumen fallen. Der Monat, in dem jegliches verbliebene Grün langsam unter einer Schicht von verrottendem Laub zu versinken beginnt. Der Monat, in dem der erste Raureif die Vegetation einhüllt und der Himmel sich immer öfter in seinem einförmigen Wintergrau zu präsentieren beginnt. Der Monat, in dem der glückliche, lebendige Ausdruck aus den Gesichtern vieler Menschen verschwindet, und der Mangel an Licht und Endorphinen sie in Winterdepressionen fallen lässt.
    Als ich – als Säugling in den Armen meiner Mutter liegend – zum ersten Mal einen Blick aus einem Fenster geworfen habe, muss ich mir der Trostlosigkeit des Winters bewusst geworden sein. Und ich kann damals nur gedacht haben: Was ist das doch für eine hässliche Welt dort draußen … Eine Welt, die jegliche Farben vermissen ließ und nichts weiter bot als grau-weiße Trostlosigkeit, nasse, von Wällen aus dreckigem Schneematsch flankierte Straßen – und Kälte.
    Bis zu meinem achten Lebensjahr gab es auf dem Hof, auf dem ich aufwuchs, nur zwei Ölöfen pro Stockwerk und kein fließendes warmes Wasser. Das morgendliche Aufstehen, der Gang ins Bad oder zur Toilette, auf den Speicher oder in den Keller und in wenig benutzte Räume, der Fußweg bis zur Schule, all das war im Winter mit einer einzigen Empfindung verbunden: Frieren. Natürlich hatte ich wie die meisten Kinder hin und wieder meine Freude am Rodeln oder an Schneeballschlachten, aber diese wich, sobald Handschuhe, Stiefel und Haare sich mit Feuchtigkeit vollgesogen hatten und mein vom Toben verschwitzter Körper wieder abgekühlt war.
    Frieren. Monatelang.
    Blaue Fingernägel, blaue Zehen. Mich erfasst heute ein Schauder, wenn ich daran denke, wie ich in meiner Kindheit gefroren habe.
    Hin und wieder schlägt das Wetter auch auf Seeland um, selbst im Frühsommer, wenn Polarluft aus dem Norden Skandinaviens die dänische Küste erreicht. Aber ich war hier nicht auf Seeland. Minutenlang starrte ich in den grauen Himmel und suchte nach weiteren verirrten Schneeflocken, als das Handy in meiner Manteltasche läutete. Ich zuckte ein zweites Mal zusammen. Der Gedanke, der mir in diesem Augenblick durch den Kopf schoss, war irrational, geradezu unsinnig. Nauna, dachte ich. Es ist Nauna! Wer sonst sollte es sein? Niemand. Niemand! Ich schüttelte entschieden den Kopf, während der melodische Klingelton wieder und wieder erklang. Irgendein Trottel hatte sich verwählt, das war alles. Heb ab!, dachte Nauna womöglich. Ob es sie viel Energie kostete, diese Welt zu erreichen? Die Schneeflocke war ihr »Hallo«, und nun würde ihre Stimme am anderen Ende der Leitung erklingen, wie so oft in der letzten Woche. Was würde Sie sagen? Es ist hell auf der anderen Seite? Es ist finster? Es ist kalt, kalt wie der Winter …?
    Ich holte tief Luft und zog das Handy mit einer fast trotzigen Bewegung aus der Manteltasche.
    »Ja?«
    Am anderen Ende meldete sich ein Mitarbeiter des Kopenhagener Niels-Bohr-Instituts und sagte: »Augenblick bitte, ich verbinde.«
    Ich stieß die angehaltene Luft zischend aus. »Woher haben Sie diese Nummer?«
    Statt einer Antwort erklang eine verzerrte Melodie aus Vivaldis Vier Jahreszeiten- Winterkonzert, brach jedoch nach wenigen Sekunden abrupt wieder ab.
    »Poul?«, fragte eine vertraute Stimme. Sie gehörte Odgen Broberg, dem Leiter des Instituts. Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. »Poul?«, wiederholte Broberg. »Sind Sie dran? Warum antworten Sie nicht?«
    Ich spielte mit dem Gedanken, die Verbindung abzubrechen und das Handy in den Priel zu werfen. Dass ich diesem Instinkt nicht folgte, war vielleicht der zweite verhängnisvolle Fehler
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