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Imagon

Imagon

Titel: Imagon
Autoren: Michael Marrak
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dieses Tages.
    »Ja …«, murmelte ich.
    »Ich verstehe Sie kaum«, brüllte Broberg, scheinbar in der Annahme, dass ich ihn ebenso schlecht höre. »Wissen Sie, wie viel Zeit und Überredungskunst vonnöten war, um an diese Nummer zu gelangen?«
    »Nein. Wer hat Sie Ihnen gegeben?«
    »Ihre Ex-Frau.«
    »Katrine, du Armleuchte …«, zischte ich.
    »Bitte?«
    »Nichts, schon gut.« Eine glatte Lüge.
    »Wo sind Sie, Poul?«
    »In Kaliningrad.«
    »Kaliningrad?!«
    Einen Augenblick herrschte Stille. Vermutlich hatte Broberg seine Hand auf der Sprechmuschel liegen und wechselte ein paar geflüsterte Worte mit jemandem, der sich bei ihm im Raum befand.
    »Wenn Sie mir erzählt hätten, Sie hätten sich unter dem Ayers Rock eine Höhle gegraben und würden darin an Ihrem neuen Buch schreiben oder im Kongo nach Meteoritensplittern graben, hätte ich Ihnen eher geglaubt. Was um alles in der Welt tun Sie in Kaliningrad? Und wo haben Sie die letzte Woche gesteckt?«
    »Ich – habe jemanden begleitet.«
    »Wir glaubten schon, Sie hätten irgendein krummes Ding gedreht und seien untergetaucht.«
    »Ich habe gekündigt.«
    »Unsinn. Sie haben Ihren Jahresurlaub beantragt, mehr nicht.«
    »Dann kündige ich jetzt.«
    »Seien Sie kein Dummkopf, Poul. Wir brauchen Sie hier! Es ist wichtig. Seit Tagen versuche ich, Sie zu erreichen.«
    Ich hatte am Institut einen Lehrstuhl für Geophysik inne, und Brobergs Beharrlichkeit ließ mich vermuten, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste – oder womöglich noch passieren würde, wobei ich die erste Alternative bevorzugte. Haben Sie schon einmal Luzifers Hammer von Niven & Pournelle gelesen? Dann wissen Sie vielleicht, warum ich das bereits Geschehene dem noch Geschehenden vorziehe …
    »Wer ist wir?«, fragte ich.
    »Das Institut und ich …«
    »Mein Daumen liegt auf der Aus-Taste«, informierte ich Broberg.
    »Und DeFries …«
    Die Erwähnung von Jonathan DeFries traf mich mit der gleichen Wirkung wie ein Sprung in einen Flüssigwasserstofftank. Im ersten Moment beruhte der Schock weniger auf der Tatsache, dass ich zum ersten Mal seit Jahren wieder den Namen meines ehemaligen Studienprofessors vernahm, sondern auf der gedanklichen Verbindung, die er unweigerlich knüpfte: DeFries war, falls er den Posten nicht aufgegeben hatte, Leiter der Forschungsstation Scoresby auf Grönland. Man darf mir glauben, wenn ich behaupte, diesen Flecken Erde auf den Mond zu wünschen – gemeinsam mit dem Nord- und Südpol, Alaska und Sibirien.
    »Ich kann nicht garantieren, dass dieses Gespräch nicht abgehört wird, daher bitte ich Sie, nichts von dem, was ich sage, zu präzisieren.«
    Das beunruhigende Gefühl in mir wuchs. »Was ist passiert?« Meine Stimme klang belegt.
    »Erinnern Sie sich an KCL-1102?«
    »Ein Windei.«
    »Nein, Poul.«
    Ich zögerte kurz. »Soll das heißen …?«
    »Sie wissen bereits, was Sie wissen müssen«, unterbrach Broberg. »Kommenden Freitag findet im Institut um 11 Uhr MEZ ein Symposium statt. Ich erwarte Sie – egal, wo Sie nun tatsächlich stecken. Sie werden es nicht bereuen, Poul. Gute Heimreise.«
    Ende der Verbindung.
    Freitag. Das war übermorgen. Für Sekunden herrschte in meinem Kopf ein heilloses Durcheinander. Gleichzeitig hatte ich bildhaft vor Augen, wie Broberg sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln in seinem Sessel zurücklehnte und seinem Besucher gewinnend zublinzelte. KCL-1102 … Ich hatte vor einigen Monaten die Pressekonferenz des Instituts geleitet und die teils enttäuschten, teils erleichterten journalistischen Nachwehen verfolgt, die durch sämtliche Zeitungen, Fernsehanstalten und Online-Medien gegangen waren. Zwei Wochen später war die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes wieder Schnee von Gestern gewesen.
    Und jetzt …
    Brobergs »Nein« hatte gereicht, um mich aus der Endlosschleife der Grübelei und Lethargie zu reißen, in der ich seit Tagen festhing. Und mit einem Mal war da die Gewissheit, dass der Brief in meiner Tasche einen Sinn bekommen würde. Dass alles, was Nauna gesagt hatte, einen Sinn bekommen würde und ein Kreis aus tiefer Irritation über ihre letzten handschriftlichen Worte sich ein Stück weit geschlossen hatte. Der Beginn einer Antwort, zu der ich noch keine Frage hatte, und für die es keine Erklärung gab. Nur geheimnisvolle Andeutungen, niedergeschrieben auf zwei Bögen Papier – und ein Grab mit Naunas Urne. Der Aberglaube, so hatte sie vor kurzem gesagt, sei nur ein Schatten, den innere
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