Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagon

Imagon

Titel: Imagon
Autoren: Michael Marrak
Vom Netzwerk:
andere Stimme schrie lauter und grausamer: Du träumst nicht! Alles ist wahr! Du hast SEIN Reich betreten. Glaube niemals, du seiest allein.
    Ziellos irrte ich umher und hielt nach ihnen Ausschau. Ich bemühte mich, an nichts anderes zu denken und zu glauben als an mich selbst, doch was ich wahrnahm, riss den letzten Schutzwall in mir nieder. Alle Trugbilder und falschen Hoffnungen wurden unter seinen Trümmern begraben. Sobald ich in den Himmel empor sah, überkam mich das unweigerliche Gefühl, zu fallen. Es war, als blicke ich aus großer Höhe auf jene Landschaft nieder, durch die ich lief. Als ich die Stille nicht mehr ertrug, begann ich zu lachen. Mit aller Kraft wehrte ich mich dagegen, zu glauben, was ich sah. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, wie tief ich in den schwarzen Schlund hinabgestürzt war und ob es für mich je ein Zurück geben würde.
    Ich kann und will nicht in allen Details wiedergeben, durch welch widersinniges Zerrbild einer Landschaft ich lief. Nie traf ich auf ein Lebewesen, das nach irdischen Begriffen noch großzügig ein Tier genannt werden konnte. Es existierten weder Fauna noch Flora, nur der fleischartige, von einem Geflecht dicker, pumpender, venenartiger Stränge bedeckte Boden. Das einzige, was in dieser Unterwelt gedieh, waren die Augen; groteske Auswüchse, die meinen Marsch mit stechenden Blicken verfolgten. Die meisten von ihnen erblickte ich nur aus der Ferne, doch nicht bei allen gelang es mir, sie in großem Bogen zu umgehen, ohne dabei in die Nähe eines anderen zu gelangen.
    Zumeist befanden sie sich an den Spitzen aus dem Boden wachsender, sich träge bewegender Wurmstümpfe, die gedrungenen, mit stummeiförmigen Polypen bedeckten Schneckenaugen ähnelten, so dick wie Baumstämme. Einmal tippte ich eines der Gebilde mit meiner Fußspitze an, worauf einer Unzahl von Drüsen und Poren eine schleimige Flüssigkeit entströmte. Sie begann das Auge zu überziehen, derweil das Gebilde zusammenschrumpfte und im Boden verschwand. Übrig blieb ein Pfuhl stinkenden Schleims, der mich an die zähflüssige Substanz im Tunnel erinnerte.
    Manche der Organismen waren bis zu mannshoch und mit armlangen Dornen bedeckt, die unablässig in Bewegung waren, als zerre eine nicht wahrnehmbare Meeresdünung an ihnen. Andere ähnelten Seeanemonen, Oktopoden, Quappwürmern oder Holothurien. Doch es gab unter ihnen auch Ungetüme; tentakelbewehrte Kolosse, die Wachtürmen glichen und ihre Blicke aus enormer Höhe auf mich fallen ließen. Viele von ihnen bewegten sich über den Boden, und es kam mir vor, als würden sie sich einander nähern und mir unmerklich folgen. Ich konnte mich vor den Augen Qurs nicht verstecken.
    Ich wanderte über endlos erscheinende Ebenen, die immer dichter von dem eigenartigen Wurzelgeflecht bedeckt waren, je tiefer ich in dieses Totenreich eindrang. Längst nahm ich meine Umgebung nicht mehr mit der Nüchternheit rationalen Denkens wahr. Die Landschaft hatte sich wie ein Parasit in meinem Bewusstsein eingenistet und ernährte sich begierig von meinem Verstand. Meine Füße schmerzten vom Laufen, und ich hatte das Gefühl, der Boden sauge bei jedem Schritt, den ich tat, ein Gran Lebensenergie aus mir heraus. Bald starrte ich nur noch auf meine Füße, beobachtete, wie meine Schritte schleppender und mein Gang unkoordinierter wurden. Ich lief, ohne innezuhalten, bis ich irgendwann – nach Stunden oder vielleicht erst nach Tagen – vor Erschöpfung zusammenbrach.
     
    Ich bildete mir ein, Stimmen gehört zu haben, sonderbare, unmenschliche Stimmen, die von überall her kamen und bei meinem Erwachen augenblicklich verstummten. Schlaftrunken blickte ich auf meine Hand. Zahllose gläserne Fäden krochen über sie hinweg, zogen sich jedoch, als ich meine Finger bewegte und zur Faust ballte, blitzartig zurück. Dennoch bekam ich einige von ihnen zu fassen. Als ich versuchte, das Gespinst aus dem Boden zu reißen, bäumte dieser sich plötzlich unter mir auf und schleuderte mich meterweit durch die Luft.
    Hastig kroch ich von der Stelle, an der ich unsanft wieder gelandet war, fort, ehe ich zurücksah und beobachtete, wie das meterhohe Gebilde, das dem Boden entwachsen war, langsam wieder versank. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich von einer ganzen Legion monströser Geschöpfe umzingelt war. Sie hatten sich in weitem Kreis um mich geschart, wobei jene, die mir am nächsten waren, noch mehr als zweihundert Meter entfernt lauerten. Während kleinere, an Planarien
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher