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Imagica

Imagica

Titel: Imagica
Autoren: Clive Barker
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produzieren.«
    »Ich kehre noch heute abend ins Atelier zurück und fange wieder an. Wie dem auch sei: Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«
    »Ich bin ganz Ohr.«
    »Verbrennen Sie den Poussin.«
    Gentle erinnerte sich daran, das Atelier während der Zeit mit Vanessa ab und zu besucht zu haben - zweimal hatte er sich dort mit Martine verabredet, als ihr Mann wider Erwarten nicht nach Luxemburg flog und sie zu geil war, um auf eine gute Nummer zu verzichten -, doch jetzt erschien es ihm so kalt und unfreundlich, daß er rasch zum Haus in Wimple Mews floh.
    Dort hieß er die schmucklose Einfachheit des Arbeitszimmers willkommen, schaltete das Heizgerät ein, kochte sich etwas, 28

    das nach Kaffee schmeckte, und dachte über Täuschung nach.
    Die letzten sechs Jahre seines Lebens - seit Judith - kamen dauerndem Doppelspiel gleich. Für sich genommen war das nicht weiter schlimm (von jetzt an wurde der Betrug wieder zu seinem Beruf), aber das Malen erbrachte wenigstens ein konkretes Ergebnis, sogar zwei, wenn man dabei auch das Geld berücksichtigte. Doch nach Eroberung und Verführung stand er immer mit leeren Händen da. Nun, damit war jetzt Schluß.
    Wenn sich im Doppelspiel sein wahres Genie verbarg - warum es an Ehemänner und Geliebte vergeuden? Er sollte einen weitaus besseren Nutzen daraus ziehen und Meisterwerke schaffen, im Namen eines anderen Mannes. Irgendwann brachte ihm die Zeit verdienten Ruhm, so wie es Klein angekündigt hatte. Irgendwann fand er Anerkennung als Visionär. Und wenn nicht, wenn sich Chester irrte und man seine Arbeit nie entdeckte...? Daraus ergab sich die größte aller Visionen. Er verharrte in Unsichtbarkeit, und doch sah man ihn. Er blieb unbekannt, und trotzdem entfaltete er großen Einfluß. Eine solche Vorstellung genügte, um ihn Frauen vergessen zu lassen. Zumindest für diese Nacht.
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    KAPITEL 3
    Den ganzen Tag lang stellten die Wolken über Manhattan Schnee in Aussicht, doch als der Abend zu dämmern begann glitten sie fort und offenbarten einen makellosen Himmel.
    Seine Farbe wirkte so rein und gleichzeitig seltsam, daß er eine philosophische Debatte über die Natur der Farbe Blau zugelassen hätte. Judith trug mehrere Einkaufstüten und beschloß, zu Fuß zu Marlins Apartment Ecke Park Avenue und Achtzigste Straße zurückzukehren. Zwar schmerzten ihre Arme, aber wenigstens blieb ihr Zeit genug, um über die sonderbare Begegnung nachzudenken und zu überlegen, ob sie Marlin davon erzählen sollte. Unglücklicherweise neigte er zu der Denkweise eines Anwalts. Bestenfalls war er kühl und analytisch; schlimmstenfalls versuchte er, alles ›aufs Wesentliche‹ zu reduzieren. Judith kannte sich selbst gut genug, um zu wissen: Wenn er ihrem Bericht mit dem zweiten Aspekt seiner Persönlichkeit zuhörte, verlor sie bestimmt die Beherrschung.
    Damit verdarb sie dann jene Atmosphäre, die bisher -
    abgesehen von Marlins Annäherungsversuchen - angenehm und ohne Belastungen gewesen war. Sie hielt es für besser, sich allein zu bemühen, die Ereignisse vor zwei Stunden zu deuten, bevor sie mit entsprechenden Schilderungen an Marlin herantrat. Dann konnte er sie ganz nach Belieben sezieren und interpretieren.
    Jude hatte die Geschehnisse schon mehrmals Revue passieren lassen, und sie wurden allmählich so vieldeutig wie das Blau des Himmels. Dennoch glaubte sie, sich an alle Fakten zu entsinnen. Sie hatte in der Abteilung Herrenbekleidung von Bloomingdales nach einem Pullover für Marlin gesucht. Im Kaufhaus ging es ziemlich hektisch zu, und Judith fand nichts Geeignetes. Schließlich griff sie nach ihren Tüten, und als sie sich wieder aufrichtete, bemerkte sie ein vertrautes Gesicht, einen Mann, der durchs Gedränge zu ihr 30

    hinstarrte. Wie lange sah sie das Gesicht? Eine Sekunde, höchstens zwei. Lange genug für ihre Lippen, um das Wort Gentle zu formen. Dann verschwand er in dem Durcheinander.
    Jude zögerte nicht, faßte die Einkaufstüten fester und eilte dorthin, wo sie ihn gesehen hatte. Sie zweifelte nicht daran, daß sich es um John Furie Zacharias handelte.
    Sie bahnte sich einen Weg durch das Meer aus Menschen und kam nur langsam voran, doch kurz darauf erblickte sie ihn erneut: Er ging zur Tür. Diesmal rief sie seinen Namen, und es war ihr gleich, dadurch närrisch zu wirken. Judith lief los, wie eine Sprinterin, und die anderen Kunden wichen beiseite. Als sie den Ausgang erreichte, war der Mann bereits draußen, aber jetzt trennten sie nur noch wenige Meter
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