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Imagica

Imagica

Titel: Imagica
Autoren: Clive Barker
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von ihm. Auf der Third Avenue herrschte dichter Verkehr, und Gentle überquerte gerade die Straße. Die Ampel sprang um, als Judith zur Bordsteinkante gelangte; sie achtete nicht darauf und hastete über den Asphalt. Erneut rief sie seinen Namen und beobachtete, wie ihn jemand anrempelte. Der Mann drehte sich halb um und wandte ihr einmal mehr das Gesicht zu. Sie war viel zu verblüfft, um über ihren absurden Irrtum laut zu lachen
    - entweder verlor sie den Verstand, oder sie hatte die Gestalt im Kaufhaus unterwegs aus den Augen verloren. Eines stand fest: Dieser Schwarze mit dem lockigen, glänzenden Haar, das bis zu den Schultern hinabreichte, konnte unmöglich Gentle sein.
    Als Judith zögerte und sich fragte, ob sie die Suche fortsetzen oder aufgeben sollte... da verschwammen die Züge des Unbekannten für einen Sekundenbruchteil und in dem mimischen Fließen - wie Sonnenschein, der sich an den Tragflächen eines Stratosphärenjets widerspiegelte - sah sie Gentle: das Haar von der hohen Stirn zurückgekämmt, Sehnsucht in den grauen Augen, der Mund voller Sinnlichkeit. Die Lippen (Judith vermißte sie plötzlich) zu einem Lächeln bereit. Doch bevor sie lächeln konnte... kippten die metaphorischen Tragflächen, der Fremde wandte sich um, und Gentle war fort.
    31

    Eine Zeitlang blieb Jude reglos auf dem Bürgersteig stehen und sah dem Mann nach. Dann riß sie sich zusammen, kehrte dem Rätsel den Rücken zu und ging heim.
    Das Geheimnis ließ sich nicht aus ihren Gedanken verbannen. Judith vertraute ihren Sinnen, und die Feststellung, daß sie ihr ein falsches Bild von der Wirklichkeit vermittelt hatten, beunruhigte sie sehr. Außerdem ärgerte sie sich darüber, daß die Fantasie ausgerechnet jenes Gesicht aus dem Katalog ihrer Erinnerungen wählte. Kleins Bastard Boy gehörte nicht mehr zu ihrem Leben, und umgekehrt verhielt es sich ebenso. Vor sechs Jahren hatte sie die Brücke der Trennung überquert, und zwischen ihnen floß jetzt ein reißender Strom, der unter anderem die Ehe mit Estabrook und viel Schmerz fortspülte. Gentle befand sich noch immer am anderen Ufer, Teil ihrer Vergangenheit, ein abgeschlossenes Kapitel.
    Warum führte ihr Unterbewußtsein ausgerechnet jetzt eine Konfrontation mit ihm herbei?
    Als sich Judith dem Apartment Marlins bis auf einen Block genähert hatte, fiel ihr etwas ein, das seit sechs Jahren in ihrem bewußten Denken fehlte. Sie erinnerte sich an den Grund, der sie veranlaßt hatte, eine fast selbstmörderische Affäre mit Gentle zu beginnen: ein kurzer Blick in sein Gesicht, so wie vorhin. Sie lernte ihn bei einer von Kleins Partys kennen - eine Zufallsbekanntschaft -, und er hinterließ keinen bleibenden Eindruck bei ihr. Drei Nächte später jedoch wiederholte sich ein bereits vertrauter erotischer Traum. Das Szenario war immer gleich: Sie lag nackt auf den Bodendielen eines leeren Zimmers, nicht festgebunden und doch gefesselt. Ein Mann, dessen Züge sie nicht erkennen konnte - sein Mund so süß, daß die Küsse wie Zucker schmeckten -, liebte sie mit pumpenden Lenden. Doch diesmal gab es einen wichtigen Unterschied -
    diesmal brannte das Feuer im nahen Kamin hell genug, um ihr die Miene des geträumten Liebhabers zu zeigen: Der Mann erwies sich als Gentle. Über viele Jahre hinweg war ihr seine 32

    Identität verborgen geblieben, und der Schock weckte sie auf.
    Judith erwachte mit dem Gefühl des Verlustes, bedauerte den unterbrochenen Koitus so sehr, daß sie keine Ruhe mehr fand.
    Am nächsten Tag fragte sie Klein nach Gentles Adresse. Er warnte sie vor John Zacharias und drückte sich dabei ziemlich deutlich aus; er sei nichts für empfindliche Herzen, betonte Chester. Trotzdem besuchte sie ihn noch am gleichen Nachmittag in seinem Atelier an der Edgware Road. Während der nächsten beiden Wochen verließen sie es kaum, und neben ihrer Leidenschaft verblaßte sogar die Ekstase des Traums.
    Erst später, als Judith ihn bereits liebte, als sie ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle halten konnte, fand sie mehr über Gentle heraus. Sein Ruf als Frauenheld und Schürzenjäger war, gelinde gesagt, erstaunlich - selbst dann, wenn er zu neunzig Prozent auf maßlosen Übertreibungen basierte. Ganz gleich, wo sie seinen Namen erwähnte: Immer wußte jemand etwas von ihm zu erzählen. Er hatte sogar verschiedene Namen.
    Manche Leute nannten ihn Zach, Zacho oder Mr. Zee, andere Gentle - so wie Judith - oder John den Göttlichen. Genug Namen für ein halbes Dutzend Leben.
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