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Imagica

Imagica

Titel: Imagica
Autoren: Clive Barker
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Meinungen weit auseinander. Einige beschrieben sie als Frau, andere als einen Mann. Manche Beobachter glaubten, eine Wolke gesehen zu haben, in der eine Sonne glühte. Was auch immer der Fall sein mochte: An den nächsten Ereignissen konnte kein Zweifel bestehen. Nach der Umarmung schritten die beiden Liebenden zum Ende des Kaps, traten darüber hinaus in die Luft - und verschwanden.
    Zwei Wochen später, am vorletzten Tag eines freudlosen Dezembermonats, saß Clem vor dem Kamin im Eßzimmer des Hauses Nummer achtundzwanzig - seit Weihnachten hatte er diesen Platz nur selten verlassen -, als er hörte, wie jemand an die Tür klopfte. Er trug keine Armbanduhr - was spielte Zeit 1353

    jetzt noch für eine Rolle? -, schätzte jedoch, daß es lange nach Mitternacht war. Ein so später Besucher mußte entweder verzweifelt oder gefährlich sein, doch angesichts seiner Niedergeschlagenheit scherte sich Clem kaum darum, was ihn draußen erwartete. Für ihn gab es nichts mehr von Wichtigkeit, weder in diesem Haus noch in seinem Leben. Gentle hatte ihn verlassen, ebenso wie Judith und auch Tay. Vor fünf Tagen war zum letztenmal Taylors Stimme in ihm erklungen:
    »Clem... Ich muß jetzt gehen.«
    »Gehen?« wiederholte er. »Wohin?«
    »Jemand hat die Tür geöffnet«, sagte Tay. »Die Toten werden nach Hause gerufen. Deshalb muß ich gehen.«
    Eine Zeitlang weinten sie zusammen. Tränen strömten aus Clems Augen, während in seinem mentalen Kosmos Taylor trauerte. Aber es nützte nichts: Der Ruf ertönte auch weiterhin.
    Die Trennung von Clem schmerzte Tay, aber seine Existenz zwischen dem Diesseits und Jenseits war unerträglich geworden, und unter dem Kummer prickelte Freude über die unmittelbar bevorstehende Erlösung. Die sonderbare Partnerschaft endete nun - für die Lebenden und Toten wurde es Zeit, getrennte Wege zu gehen.
    Erst nach dem Abschied von Tay begriff Clem, welchen Verlust er erlitten hatte. Der physische Tod des Geliebten war schlimm genug gewesen, doch plötzlich nicht mehr die Präsenz der auf so wundervolle Weise zurückgekehrten Seele zu spüren... Dieser Umstand führte zu einem Leid, das Clem innerlich zu zerreißen drohte. Bald hielt er es für unmöglich, noch leerer zu sein und trotzdem zu leben. Während jener von Depressionen geprägten Tage spielte er mehrmals mit dem Gedanken, Selbstmord zu begehen und Tay durch die von ihm erwähnte offene Tür zu folgen. Nicht etwa mangelnder Mut hinderte ihn daran, diese Möglichkeit zu wählen - der Grund hieß vielmehr Verantwortungsbewußtsein. In dieser Domäne existierten keine anderen Zeugen der Wunder, die sich in der 135
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    Gamut Street zugetragen hatten. Wer sollte von ihnen berichten, wenn er aus dem Leben schied?
    Doch solche Überlegungen schienen in dieser Nacht an Bedeutung zu verlieren. Als Clem aufstand und zur Tür ging, ertappte er sich dabei, fast zu hoffen, daß der unbekannte Besucher den Tod mit sich brachte. Er fragte nicht einmal, wer draußen wartete, schob wortlos den Riegel beiseite und öffnete.
    Überrascht stellte er fest, daß Montag im Schneeregen stand, begleitet von einem Fremden, dessen Locken naß am Schädel klebten.
    »Das ist Chicka Jackeen«, sagte Montag, als er seinen Gefährten über die Schwelle geleitete. »Jackie, das ist Clem -
    das achte Wunder dieser Welt. He, bin ich zu naß, um umarmt zu werden?«
    Clem trat näher und schlang die Arme um ihn.
    »Ich habe schon befürchtet, dich und Gentle nie wiederzusehen«, sagte er.
    »Nun, bei einem von uns ist das tatsächlich der Fall«, entgegnete der Junge.
    Clem nickte. »Das dachte ich mir. Tay ist ihm gefolgt.
    Ebenso die Geister.«
    »Wann?«
    »Am ersten Weihnachtstag.«
    Jackeens Zähne klapperten, und Clem führte ihn zum Feuer, in dem Möbelteile brannten. Er legte zwei Stuhlbeine nach und forderte Chicka auf, vor dem Kamin Platz zu nehmen und sich zu wärmen. Der Mann dankte ihm, schob sich ganz nahe an die Flammen heran und streckte ihnen die Hände entgegen. Dem Jungen schien die Kälte nicht annähernd soviel auszumachen.
    Er nahm die Flasche Whisky vom Kaminsims, trank einige Schlucke und begann dann damit, das Zimmer umzuräumen.
    Während er den Tisch in eine Ecke zerrte, erklärte er dem erstaunten Clem, sie brauchten genug Platz. Schließlich knöpfte er seine Jacke auf und holte Gentles Mappe hervor.
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    »Was ist das?« fragte Clem.
    »Eine Karte von Imagica.«
    »Gentles Werk?«
    »Ja.«
    Montag ging in die Hocke, öffnete die Mappe und
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