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Imagica

Imagica

Titel: Imagica
Autoren: Clive Barker
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werfen?«
    »Wenn du möchtest...«
    Jackeen sah dem Rekonzilianten über die Schulter. Die Darstellung der Wüste konnte nicht mehr verbessert werden, und Gentle versuchte jetzt, sowohl die Halbinsel als auch die Szene vor ihm zu skizzieren. Bisher zeigte das Blatt nur einige wenige Linien, aber sie ließen bereits Umrisse erahnen.
    »Könntest du Montag für mich holen?«
    »Brauchst du etwas?« entgegnete Jackeen.
    »Ich möchte, daß er diese Karten zur Fünften mitnimmt und sie Clem gibt.«
    »Wer ist Clem?«
    »Ein Schutzengel.«
    »Oh.«
    »Holst du ihn bitte?«
    »Jetzt sofort?«
    »Ja«, bestätigte Gentle. »Ich bin fast fertig.«
    Der pflichtbewußte Chicka Jackeen ging sofort in Richtung der Zweiten Domäne und überließ den Rekonzilianten seiner Arbeit. Es gab nicht mehr viel zu tun. Einige weitere Striche beendeten die Skizze der Landzunge, und eine Linie aus einzelnen Punkten markierte jenen Weg, den er beschritten hatte. Ein Kreuz kennzeichnete die Stelle, an der er nun saß.
    Anschließend vergewisserte sich Gentle, daß die Mappe alle Blätter in der richtigen Reihenfolge enthielt, und dabei fiel ihm ein, daß er eine Art Selbstporträt angefertigt hatte. Die Karte war ebenso mit Mängeln behaftet wie ihr Schöpfer, aber er hoffte, daß die Fehler korrigiert werden konnten. Sie war ein 1351

    rudimentäres Etwas, das nach besseren Versionen verlangte und sie auch bekommen würde - im Lauf der Zeit. Das Schicksal sah für sie vor, immer neu erschaffen zu werden, in einem Zyklus, der vielleicht nie enden würde.
    Er wollte die Mappe gerade beiseite legen, als er im Rauschen der Wellen, die ans Ufer rollten, auch noch etwas anderes hörte. Es handelte sich um ein seltsames Geräusch, das er nicht identifizieren konnte und das ihn veranlaßte, aufzustehen und an den Rand des Kaps heranzutreten. Hier war der Boden wesentlich weicher und konnte von einem Augenblick zum anderen unter ihm nachgeben. Trotzdem beugte Gentle sich vor und spähte nach unten. Was er dort sah und hörte, veranlaßte ihn, eine plötzliche Entscheidung zu treffen. Er wich ein wenig zurück, kniete hin und schrieb mit zitternden Fingern eine Mitteilung.
    Dabei lauschte er den Worten, die aus der Tiefe emporflüsterten und mit Verheißungen lockten:
    »Nisi Nirwana...« , wisperte es. »Nisi Nirwana...«
    Er schob den Zettel mit der Nachricht in die Mappe, legte sie zusammen mit dem Stift auf den Boden und kehrte zum Rand der Landzunge zurück. Oben kam die Sonne der Ersten hinter den faserigen Resten einiger Gewitterwolken zum Vorschein, und ihr Licht fiel auf die Wellen. Die einzelnen Strahlen brachten ihnen Ruhe, durchdrangen sie und gewährten Gentle einen Blick auf das, was sich unter dem Wasser befand. Er gewann den Eindruck, daß die Fluten gar nicht über Felsen und dergleichen hinwegflossen, sondern über einen anderen Himmel - und darin schwebte eine so majestätische Kugel, daß alle Himmelskörper von Imagica - Sterne, Monde und Mittagssonnen - daneben verblaßten. Der Rekonziliant wußte: Er sah nun die Tür, die von der Stadt seines Vaters verdeckt worden war, jenes Portal, durch das der Name aus der Geschichte seiner Mutter raunte. Jetzt öffnete sie sich wieder, nach vielen Jahrtausenden, und melodische Stimmen wehten 135
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    daraus hervor, um alle ruhelosen Geister von Imagica heimzurufen.
    In diesem Konzert vernahm Gentle eine Stimme, die er gut kannte, und seine Fantasie reagierte, noch bevor die Augen ihren Ursprung sahen. Er stellte sich das Gesicht vor - und glaubte bald, Arme zu spüren, die ihn sanft umschlangen und nach oben trugen. Nur wenige Sekunden später konnte er auf die Kraft der Imagination verzichten: Die Arme erschienen tatsächlich, sie streckten sich ihm aus dem Portal entgegen.
    »Bist du bereit?« fragte die Stimme.
    »Ja«, erwiderte Gentle. »Ja, ich bin bereit.«
    »Gut.« Pie'oh'pah lächelte. »Dann können wir beginnen.«
    Die von Jackeen zurückgelassene Gruppe erlag allmählich der Neugier und wagte sich zur Halbinsel vor. Montag hatte sich den Manglern angeschlossen, und Chicka wollte ihn gerade zum Rekonzilianten schicken, als der Junge einen Schrei ausstieß und über die Landzunge hinwegdeutete.
    Jackeen drehte sich um und bemerkte zwei Gestalten, die sich umarmten. Später berichteten die Augenzeugen von unterschiedlichen Ereignissen, aber in einem Punkt herrschte Einigkeit: Alle bestätigten, den Maestro Sartori erkannt zu haben. Was die zweite Gestalt betraf, gingen die
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