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Imagica

Imagica

Titel: Imagica
Autoren: Clive Barker
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warf er einen Blick über die Schulter und sah zu Yzordderrex zurück. Die Stadt bot einen wundervollen Anblick: An vielen Stellen glitzerte das Wasser in den Straßen
    - und schien sich in perfekte Spiegel für das Sternenlicht zu verwandeln. Und Yzordderrex war nicht die einzige Quelle solcher Pracht. Auch das Land zwischen den Toren der Stadt und dem Weg, dessen Verlauf Gentle und Montag folgten, glühte hier und dort und fing einen Teil des Leuchtens am Himmel für sich ein.
    Doch die letzten Reste dieses Zaubers lösten sich auf, als der Morgen dämmerte. Die Stadt war längst in der Ferne hinter 1343

    ihnen verschwunden, und voraus ballten sich Gewitterwolken zusammen. Gentle erkannte die unheilvolle Farbe des Himmels wieder und erinnerte sich an den kurzen Ausflug mit Tick Raw.
    Die Rasur schirmte Hapexamendios' Pestilenz noch immer von der Zweiten ab, aber sie konnte nicht das ganze Grauen fernhalten: Ein Teil durchdrang die Leere und stieg zum Himmel hoch.
    Doch es gab auch Erfreuliches - der Maestro und sein Begleiter waren nicht allein. Als die halb zerfetzten Überbleibsel der Mangler-Zelte am Horizont erschienen, beobachtete Gentle eine Gruppe aus etwas dreißig Andächtigen, die zur Rasur hinüberblickten. Einer von ihnen sah den Rekonzilianten und Montag; sofort wies er seine Gefährten darauf hin, und jemand hastete den Reitern entgegen:
    »Maestro! Maestro!« rief er.
    Chicka Jackeen - und seine Freude darüber, Gentle wiederzusehen, grenzte an Ekstase. Doch nach einer fröhlichen Begrüßung wurde er rasch ernst.
    »Wo ist uns ein Fehler unterlaufen, Maestro?« fragte er. »Ich habe mir das Ergebnis der Zusammenführung anders vorgestellt.«
    Gentle gab sich alle Mühe, die Hintergründe zu erklären, was bei Chicka Jackeen abwechselnd Erstaunen und Entsetzen hervorrief.
    »Hapexamendios ist also tot?«
    »Ja. Und in der Ersten Domäne besteht alles aus Seinem Fleisch. Das nun verwest.«
    »Was passiert, wenn Lücken in der Rasur entstehen?«
    »Ich fürchte, in dem Fall müssen wir mit einem schier unerträglichen Gestank rechnen.«
    »Erläutere mir deinen Plan«, sagte Jackeen.
    »Ich habe keinen.«
    Der andere Maestro runzelte verwirrt die Stirn. »Du hast einen weiten Weg zurückgelegt, um diesen Ort zu erreichen.
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    Und du bist bestimmt nicht ohne Grund gekommen.«
    »Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen«, erwiderte Gentle. »Die Wahrheit ist: Es gab keinen anderen Ort mehr, den ich aufsuchen konnte.« Er blickte zur Rasur hin.
    »Hapexamendios war mein Vater, Lucius. Vielleicht glaube ich im Grunde meines Herzens, daß ich bei Ihm in der Ersten sein sollte.«
    »Wenn du mir eine Bemerkung gestattest, Boß...«, warf Montag ein.
    »Natürlich.«
    »Das ist eine blödsinnige Vorstellung.«
    »Wenn du die Erste aufsuchst, so begleite ich dich«, sagte Chicka Jackeen. »Ich möchte es mit meinen eigenen Augen sehen. Ein toter Gott... Davon kann man seinen Kindern erzählen.«
    »Welchen Kindern?«
    »Nun...«, brummte Jackeen. »Entweder lege ich mir eine Familie zu, oder ich schreibe meine Memoiren - und zu beidem fehlt mir die Geduld.«
    »Ausgerechnet dir?« entgegnete Gentle. »Zweihundert Jahre lang hast du auf mich gewartet, und jetzt behauptest du, keine Geduld zu haben?«
    »Es ist die Wahrheit. Ich wünsche mir ein normales Leben, Maestro.«
    »Was ich dir nicht verdenken kann.«
    »Aber vorher möchte ich die Erste Domäne sehen.«
    Sie befanden sich nun in unmittelbarer Nähe der Rasur, und Chicka Jackeen ging zu seinen Kameraden, um ihnen mitzuteilen, daß er den Rekonzilianten durch die Transferzone begleiten wolle. Montag nutzte die Gelegenheit, um erneut seine Meinung zum Ausdruck zu bringen.
    »Bleib hier, Boß. Du brauchst nichts zu beweisen. Ich weiß: Es ärgert dich, daß man in Yzordderrex keine große Party zu deinen Ehren veranstaltet hat, aber deswegen solltest du nicht 1345

    zu sauer sein. Zum Teufel mit den Leuten. Besser noch: Überlaß sie ihren Fischen...«
    Gentle legte Montag die Hand auf die Schulter.
    »Keine Sorge«, sagte er. »Es liegt nicht in meiner Absicht, Selbstmord zu begehen.«
    »Warum die Eile, Boß? Du bist völlig erledigt. Schlaf erst einmal. Iß etwas. Komm wieder zu Kräften. Morgen ist auch noch ein Tag.«
    »Es geht mir gut«, behauptete Gentle. »Ich habe meinen Talisman dabei.«
    »Und der wäre?«
    Der Maestro öffnete die Hand und zeigte Montag den blauen Stein.
    »Ein Ei?« fragte der Junge verdutzt.
    »Ein Ei, ja...«
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