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Imagica

Imagica

Titel: Imagica
Autoren: Clive Barker
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Fünften. Sie möchten, daß auch dort heiliges Wasser fließt.«
    »Es wäre eine echte Sehenswürdigkeit.«
    »Ja«, bestätigte Judith. »Vielleicht kehre ich zurück, wenn es soweit ist...«
    Während dieses Wortwechsels war Huzzah still geworden; nun sah sie wieder zu Gentle auf und musterte ihn erneut. Sie streckte den Arm aus, aber jetzt war die kleine Hand nicht geöffnet, sondern fest geschlossen. Die Finger umklammerten den blauen Stein.
    »Du sollst ihn nehmen«, sagte Jude.
    Gentle blickte auf das Kind hinab und lächelte.
    »Danke. Behalt den Stein.«
    Huzzah wandte den Blick nicht von ihm ab, und plötzlich war der Maestro sicher, daß sie jedes Wort verstand. Ihre Hand bot noch immer das Geschenk an und bestand darauf, daß er es akzeptierte.
    Jude winkte. »Na los.«
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    Schließlich gab Gentle dem doppelten Drängen nach - hier die Augen des Kindes, dort die Worte der Mutter - und nahm den Stein behutsam aus Huzzahs Hand. Offenbar steckte viel Kraft in den winzigen Fingern, denn der Stein war recht schwer. Kühle ging von ihm aus.
    »Jetzt haben wir endgültig Frieden geschlossen«, sagte Judith.
    »Ich wußte gar nicht, daß wir verfeindet waren«, entgegnete Gentle.
    »Das ist ja gerade das Schlimme daran, nicht wahr? Aber nun ist alles vorbei. Für immer.«
    Das Plätschern des Wasservorhangs im Torbogen veränderte sich ein wenig, und Jude drehte den Kopf. Zuvor war ihr Gesichtsausdruck ernst gewesen, aber als sie den Blick wieder auf Gentle richtete, haftete ein Lächeln an ihren Lippen.
    »Ich muß gehen«, sagte sie und stand auf.
    Das Kind gluckste erneut und winkte.
    »Sehen wir uns wieder?« fragte Gentle.
    Judith schüttelte langsam den Kopf, und so etwas wie Nachsicht zeigte sich in ihrer Miene.
    »Warum sollten wir uns wiedersehen?« murmelte sie. »Wir haben uns alles gesagt, uns gegenseitig verziehen. Das genügt.«
    »Darf ich in der Stadt bleiben?«
    »Natürlich«, sagte Jude und lachte. »Aber warum sollte dir daran gelegen sein, hier zu verweilen?«
    »Meine Pilgerreise ist zu Ende.«
    »Tatsächlich?« Sie wandte sich von dem Maestro ab und schritt zum Torbogen. »Eine Domäne hast du noch nicht besucht.«
    »Ich kenne sie. Und ich weiß, was sie enthält.«
    Kurze Stille folgte.
    »Hat dir Celestine jemals ihre Geschichte erzählt?« fragte Judith.
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    »Meinst du die von Nisi Nirwana?«
    »Ja. Ich habe sie in der Nacht vor der Rekonziliation gehört.
    Hast du sie verstanden?«
    »Nein, eigentlich nicht.«
    »Oh...«
    »Warum fragst du?«
    »Nun, auch mir blieb die Geschichte zum größten Teil ein Rätsel, und ich dachte, daß du vielleicht...« Jude zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was ich dachte.«
    Sie stand nun am Torbogen, und das Kind sah über ihre Schulter hinweg zu jemandem hinüber, der hinter dem Schleier aus Wasser stand. Die Gestalt war kein Mensch, ahnte Gentle.
    »Hoi-Polloi erwähnte die anderen Gäste, nicht wahr?« ließ sich Jude lächelnd vernehmen, als sie die Verblüffung des Maestros sah. »Sie kamen aus dem Ozean, um uns den Hof zu machen. Einige von ihnen sind sehr attraktiv. Bald werden hübsche Kinder geboren...«
    Das Lächeln verblaßte.
    »Sei nicht traurig, Gentle. Wir hatten unsere Zeit zusammen.«
    Im Anschluß an diese Worte trug sie ihre Tochter durchs Tor. Der Rekonziliant hörte, wie Huzzah das Gesicht auf der anderen Seite mit einem glücklichen Lachen begrüßte, und er beobachtete, wie die Gestalt des Fremden silbrige Arme um Mutter und Kind schlang. Dann funkelte helles Licht aus dem nassen Vorhang, und als sich der Glanz verflüchtigte, war die Familie fort.
    Gentle wartete einige Minuten lang in dem leeren Saal, obwohl er wußte, daß Judith nicht zurückkehren würde.
    Vielleicht wollte er nicht einmal, daß sie erneut zu ihm kam. Er blieb vor allem deshalb noch ein wenig in dem großen Raum, um sich die letzte Begegnung mit Jude fest ins Gedächtnis einzuprägen. Erst dann trat er nach draußen in die frischer gewordene Luft der Dämmerung. Der Wald hielt nun eine 134
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    andere Art von Zauber bereit: Blaugrauer Dunst senkte sich vom Blätterdach herab und stieg von den Tümpeln auf. Der wohltönende Gesang von Abendvögeln ersetzte nun das Mittagszwitschern, und Nachtfalter schwirrten umher.
    Er hielt vergeblich nach Montag Ausschau und spürte wachsendes Unbehagen, obwohl niemand sein Recht in Frage stellte, durch diese Idylle zu wandern. Deutlich fühlte er, daß dieser Ort nie seine Heimat werden konnte;
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