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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne
Autoren: Federica de Cesco
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verstand ich. Weißliches Licht loderte vor meinen Augen auf, brannte in meinem Kopf wie mittägliche Sonnenglut. Ich war nicht die Tochter des Hirsches. Ich war das zweifach königliche Wesen, Tochter der Königin Himiko und des Herrn Susanoo, ihres Bruders, dessen Name ich verflucht hatte. Das Pochen der Trommeln, die Hitze, die Schwäche, alles steigerte sich ins Unerträgliche. Ich fühlte mich wie inmitten eines Wirbels, der sich schneller und schneller drehte und mich in die Tiefe zog. Ich fiel vornüber, barg das Gesicht in beide Hände. Alle Zusammenhänge wurden plötzlich klar: die Anspielungen der Feuerhüterin, das rätselhafte Verhalten meiner Mutter. Ich begriff ihr Schweigen, ihr Verlangen nach Einsamkeit, die Not ihres Herzens. Ihre letzten Worte an mich wurden in meinem Gedächtnis laut: »In allen Dingen strebe immer nach Gerechtigkeit.« Aber diese Worte besaßen für mich weder Sinn noch Substanz. Mein Geist war erlahmt. Ich gehörte mir selbst nicht mehr, in mir war nur noch diese glühende Besessenheit, die allzu lange zurückgedrängt worden war.
    Bebend legte ich die einzelnen Dinge wieder in das Kästchen zurück, streute den Staub des Eichenblattes darüber. Ein Schluchzen zerriss mir die Kehle, doch meine Augen blieben trocken. Es war etwas Seltsames in mir - wie hohes Fieber. Als ich mich aufrichtete, taumelte ich, weil die Erde plötzlich unter meinen Füßen bebte. Ich fühlte mich wie auf einem Schiff bei Wellengang, suchte tastend an der Wand Halt. Tief aus der Erde stieg ein mächtiges Grollen empor. Die Burg wankte in ihren Grundfesten, als sei sie auf Schlamm erbaut. Dann beruhigte sich die Erde, der Widerhall des Stoßes erstarb, hinterließ eine eigentümliche, gespenstische Stille, die von Stimmen und Gepolter, Klagelauten und Schreien unterbrochen wurde. Gegen die Wand gelehnt, rang ich nach Atem. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, solange der Tumult anhielt. Nach längerer Zeit wurde es ruhiger. Als die Trommeln erneut zu schlagen begannen, das aufreizende Kreischen der Flöten wieder einsetzte, ließ ich die Schiebewand zur Seite gleiten und trat hinaus. Ich wusste, dass ich keinen Augenblick mehr verlieren durfte.

24
    I m Halbdunkel der Burg stieg ich über halb nackte Dienerinnen, die, auf Strohmatten ausgestreckt, ihren Rausch ausschliefen. Die Wachtposten saßen mit untergeschlagenen Beinen am Boden, die Waffen über den Knien, und tranken mit stumpfsinnigen Gesichtern. Überall in den Gängen kauerten oder lagen Gestalten, träumend, trinkend oder einander umarmend. Der süßliche Geruch des Reisweins erfüllte die Luft. Ich ging durch verlassene Räume, stieg Holztreppen hinab, bis ich einen unterirdischen Gang erreichte. Hier war es finster und kalt, doch ich kannte den Weg, der zu einem Gewölbe unter dem Wachtturm führte. Fröstelnd tastete ich mich den nackten, feuchten Stein entlang. Es roch nach Moder und fauligem Wasser. Dann leuchtete schwach ein Licht auf: Vor dem verriegelten Kerker standen zwei Wachtposten; ihre Speere schimmerten im rauchigen Fackelschein. Die beiden Männer hatten ebenfalls Reiswein genossen, waren aber nicht betrunken. Sie verbeugten sich stumm. Eine Geste von mir genügte.
    Rostige Scharniere quietschten, als der Riegel zurückgeschoben wurde. Die Tür öffnete sich ins Dunkel. Einer der Wächter trat ein, steckte die Fackel in einen Ring an der Wand. Der Luftzug bewegte die Flamme. Der Mann, der in einer Ecke kauerte, hob den Arm, um seine geblendeten Augen zu schützen. Die Ketten, die an eisernen Ringen um seinen Hals, seine Hand- und Fußgelenke lagen, rasselten gegen die Steine. Ein Schauer überlief mich.
    Ich befahl: »Nehmt ihm die Ketten ab!«
    Die Schildwachen gehorchten.
    Â»Hinaus!«, sagte ich.
    Die Tür schloss sich wieder. Für eine Weile war die Zelle nur von dem Geräusch unserer Atemzüge angefüllt. Dann richtete Susanoo sich, an die Wand gestützt, schwankend auf. Seine Kleider waren zerfetzt und starr vor Schmutz. Die schweren Ketten hatten seine Haut wund gescheuert und aufgerissen. Ich sah das Blut, das ihm über Brust und Hände tropfte, und spürte seine Schmerzen in meinem Körper.
    Schwerfällig löste er sich von der Wand. Die Fackel beleuchtete sein verhärmtes Gesicht; es spiegelte einen Stolz wider, den weder Schande, Leid noch Gefangenschaft zu brechen
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