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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne
Autoren: Federica de Cesco
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verwesen. Und als ich mich eines Tages nicht mehr in der Gewalt hatte, als mein Verstand mich verließ, da habe ich das Schicksal herausgefordert …«
    Einige Atemzüge vergingen. Ich weinte nicht; dennoch hatte das Blut in meinem Mund den Geschmack von Tränen, als sein leises, raues Lachen die Stille brach.
    Â»Und nun, Priesterin, sage mir, wo liegt der Sinn des Ganzen? War nicht alles Selbsttäuschung und Hohn? Oder muss ich glauben, dass göttlicher Wille meine Leidenschaften entfachte und meinen Hass lenkte?«
    Ich spürte ein Würgen in der Kehle. Nur stockend brachte ich die Worte über die Lippen. »Wir alle sind dazu bestimmt, Unausweichliches hinzunehmen. Das Schicksal schenkte dir die Kraft, den Weg zu bereiten. Wenngleich du dein Volk zu vernichten versuchtest, hast du es in Wirklichkeit unterstützt, denn durch dein Eingreifen wurde der von unseren Ahnen vorgesehene Bund geschlossen und gefestigt. Deine Aufgabe ist jetzt erfüllt.«
    Er schüttelte den Kopf.
    Â»Was habe ich davon?«, sprach er mit bitterem Hohn. »Was bleibt mir? Ein Schluck Wasser, ein Schluck Wind … die Einsamkeit und das Nichts …«
    Â»Dir«, erwiderte ich leise, »dir bleibt die Ewigkeit …«
    Wir sahen uns an. Das Schweigen zwischen uns war wie ein leuchtendes, vibrierendes Netz, das uns enger verband als jede Berührung. Doch unvermittelt erstarrten wir beide. In der Tiefe rollte und dröhnte der Fels. Es war, als ob ein gefangener Drache im Herzen der Erde seinen Rücken spannte und die Flügel ausbreitete, um sich gewaltsam zu befreien. Ich bekam nicht genug Luft, fühlte mich gefangen in der Drohung, die sich ausbreitete, bis Susanoos gelassene Stimme die wieder eingekehrte Stille brach:
    Â»Seit ihrem Tod hat die Erde nicht aufgehört zu beben …«
    Â»Ja«, sagte ich. »Die unterirdischen Kräfte sind erwacht …«
    Mein Herz war wieder ruhig. Ich wusste, was mir zu tun blieb.
    Â»Hör zu«, sprach ich. »Der Rat hat deine Hinrichtung beschlossen. Nach den Trauertagen sollst du enthauptet werden. Du musst fort von hier. Unverzüglich!«
    Sein stolzes Gesicht wurde abweisend. »Fliehen?«, meinte er verächtlich. »Sollte ich auch noch feige geworden sein?«
    Ich erwiderte seinen Blick; ich wollte, dass meine Stimme fest blieb. Und niemals war ich von größerem Stolz erfüllt als in diesem Augenblick, da ich zum zweiten Mal sein Leben in meinen Händen hielt.
    Â»Es ist nicht dein Schicksal, in Yamatai zu sterben. Geh nach Izumo, in das ›Land-des-staubigen-Eisens‹, und gründe dort ein Königsgeschlecht. Deinen Nachkommen wird deine Schuld verziehen werden. Und unsere beiden Herrscherfamilien werden sich im Laufe der kommenden Zeiten vereinen.«
    Er wandte sich von mir ab. »Nein«, schien seine Bewegung zu sagen. Ich holte gepresst Atem.
    Â»Geh!«, sagte ich leise. Und fügte hinzu: »Ich bitte dich darum.«
    Er blickte auf. »Ich werde gehorchen«, sprach er. »Du bist die Königin.«
    Seine Stimme hatte ihren warmen, festen Klang zurückgewonnen, seine Augen glitzerten wie einst. Er streckte sich, um die in der Gefangenschaft steif gewordenen Muskeln zu lockern. Dann warf er sein langes Haar zurück, durchquerte die Zelle und riss die Tür auf. Die Wachen standen mit erhobenem Speer. Er sah sie nur an. Die Männer senkten die Waffen. Er ging an ihnen vorbei in das Halbdunkel, mit leichten, federnden Schritten. Ich folgte ihm. Die Tür des Wachtturms stand offen. Helle schlug uns entgegen. Susanoo erklomm die Stufen und blieb auf der Schwelle stehen. Am Horizont, wo der bleiche Himmel mit dem Meer zusammenfloss, schwebte wie ein Traumbild die klare purpurne Sonne. Ein Seufzer hob Susanoos Brust.
    Â»Amaterasu«, flüsterte er. »Große Erlauchte Göttin, die den Himmel erleuchtet …«
    Tief sog er den Geruch von Salz und Tang ein. Das Licht fiel auf sein Gesicht, spiegelte sich in seinen Augen, als er sich mir zuwandte und zum Abschied verneigte. Mit letzter Kraft erwiderte ich seine Verbeugung. Ich fühlte mich tot und leer: leer wie eine hohle Muschel, die die Brandung an den Strand spült. Schon drehte er sich fort von mir, entfernte sich mit raschen Schritten. Der Weg flimmerte unter einem Spiegel aus Hitze und seine hohe Gestalt hob sich dunkel vor der Sonnenscheibe ab. Dann verwischte sie das gleißende Leuchten. Er drang
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