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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne
Autoren: Federica de Cesco
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Arm aus. Ich folgte seinem Blick. Da sah ich, dass das Meer zurückkehrte. Ungeheure Schaumkronen überzogen den Horizont, wuchsen zu einer Wogenkette, die sich wild aufbrausend dem Festland näherte. Ich spürte, wie sich mir der Magen umkehren wollte, und eine innere Stimme sagte mir, dass dies das Ende sei. Schon hatten die Wassermassen die Heilige Insel erreicht, schlugen über ihr zusammen, bevor sie in die Bucht rasten. Mitgerissen von dem gewaltigen Sog, rollten die Riesenwellen der Küste entgegen, schaumweiß, donnernd, unausweichlich. Felsblöcke und Trümmer, Körper und ganze Schiffe wurden von den Wogen erfasst, in unvorstellbare Höhen geschleudert. Die brodelnden Wellen überzogen das Festland, breiteten sich seitwärts aus, bis sie die Ausläufer der Berge erreichten. Als der ungeheure Druck den Boden spaltete, versank Amôda für immer in finstere, schäumende Tiefen.

26
    S päter, sehr viel später, zogen sich die Wasser zurück. Der Boden trocknete. Der Schlamm wurde zu grauer, bröckelnder Erde, dann zu weißlichem Staub, den der salzige Wind aufwirbelte. Tiefblauer Himmel leuchtete über dem Meer, das in regelmäßigen Bewegungen die Wellen an den Strand spülte. Die Heilige Insel war für alle Ewigkeit im Meer versunken, doch langsam, ganz allmählich, begann neues Leben. Der Wind brachte Körner, Pollen, Insekten. Zuerst kehrten die Vögel zurück, dann die Eidechsen und Schlangen, zuletzt die Tiere, die in den Wäldern zu Hause waren. Das Schilf wuchs. Die verwüstete Ebene grünte.
    Die Menschen mieden die Bucht. Es wurde beschlossen, eine neue Stadt höher am Hang aufzubauen, um sie vor einer zukünftigen Flutkatastrophe zu schützen. Die Arbeiten erwiesen sich als langwierig und beschwerlich, denn die Baustoffe mussten aus großer Entfernung herbeigeschafft werden. Die Straßen wurden gepflastert, die Mauern einer neuen, größeren Festung errichtet. Die Fischer knoteten Netze, die Bauern bewässerten die Felder und pflanzten Getreide und Reis. Tag und Nacht, unermüdlich, war das Klopfen der Handwerker, das Hämmern in den Schmieden zu vernehmen.
    Wie eine verdorrte Pflanze, die sich nach dem Regen, mit Saft gefüllt, wieder aufrichtet, erwachte Amôda aus Schlamm und Asche.
    Am Ende des dritten Sommers waren die ersten Schiffe bereit, ins Meer zu stechen. Nach der langen Zeit seines Zwangsaufenthaltes in Yamatai hatte Iri es eilig, nach Nimana zurückzukehren. Doch er würde wiederkommen. Am Tag vor seiner Abreise, als ich in seinen Armen lag, sprach er zu mir:
    Â»Die Zeit ist nun gekommen, den Bund des Pfirsichbaums zu besiegeln. Werde meine Frau und herrsche an meiner Seite über unser vereintes Königreich.«
    Für eine Weile starrte ich regungslos ins Halbdunkel.
    Â»Du bist ein Feldherr«, antwortete ich schließlich.
    Er lachte. »Und du eine stählerne Klinge. Du biegst dich, doch brichst du nicht. Aber was ist die beste und härteste Klinge wert ohne den Arm des Mannes, der sie führt? Brauchst du nicht einen Krieger, der dir zur Seite steht?«
    Ich rückte leicht von ihm ab. Er wusste nicht, dass mich vor langer Zeit in einem Kerker ein Mann in seine Arme geschlossen hatte. Er wusste nicht, dass ich an jenem Tag gestorben war.
    Â»Es ist nicht gut«, sprach ich leise, »wenn eine Priesterin vergisst, dass sie die Stimme des Orakels ist …«
    Er streichelte lächelnd mein Haar.
    Â»Das Orakel wird unseren Bund gutheißen.«
    Ich schmiegte mein Gesicht an seinen Hals, dort wo ich das Blut unter der warmen Haut pulsieren fühlte.
    Â»Morgen«, sagte ich, »werde ich in der Himmlischen Grotte den Geist meiner Mutter befragen.«

    Bei Tagesanbruch ritten wir in Begleitung einiger Offiziere und Dienstboten zum Berg Shikajima. Über dem korallenfarbenen Meer glänzte eisigblau der Himmel. Kormorane tauchten von den Klippen in die leuchtenden Wellen. Am Berghang waren noch die Wunden zu erkennen, die das Erdbeben hinterlassen hatte: entwurzelte Bäume, zersplitterte Felsen. Doch die Erde war locker und warm. Zwischen verdorrten Sträuchern sprossen junge Pflanzen. Falter und Bienen summten. Eine Eidechse lag behaglich auf einem Stein und wärmte sich in der Morgensonne.
    Am Fuß der Basaltwand ließen wir die Pferde grasen. Ich verneigte mich vor dem »Sakaki-Busch«. Ich hatte alles bei mir, was ich für das Ritual
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