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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes
Autoren: Andreas Gößling
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auf ihre Lippen herab.
     
    »Willst du meine Frau werden?« fragte Robert beträchtliche Zeit später, nachdem Mabo noch mehrfach im Türloch erschienen und unverrichteterdinge wieder abgezogen war.
    »Aber wie soll das angehen, Mr. Thompson?« fragte Helen mit Henrys erstauntester Burschenstimme, und da zog Robert sie abermals an sich und küßte sie mit so wilder Leidenschaft, als ob in seinem Innern ein Vulkan zu brodeln begänne.
    Ihre Lagerstatt geriet bedrohlich ins Wanken und stieß gegen den Schemel, worauf mit lautem Scheppern und Klirren alles zu Boden fiel, was darauf gelegen und gestanden hatte. Helen löste sich aus Roberts Armen und beugte sich über den Bettrand, erhitzt und atemlos.
    »Was kümmert dich jetzt ein Teller voll abgenagter Knochen?« fragte er lachend.
    »Der Teller wenig.« Sie beugte sich noch tiefer hinab und tastete über den Boden. »Aber das hier um so mehr.« Sie richtete sich wieder auf und drückte Robert einen schlanken, fingerlangen Stab in die Hand, mit einem weichen Busch am dickeren Ende.
    Mittlerweile war es so düster in ihrer Hütte, daß man die Hand kaum mehr vor Augen sah. Erstaunt befühlte er den Stab, der sich glatt und kühl anfühlte und in einen steinernen Stachel aus lief, scharf und spitz wie ein Eisendorn. Da entsann er sich, was es damit auf sich hatte: »Der Jadepinsel! Wo hast du ihn her?«
    Helen räusperte sich. »Nun, er befand sich in deinem... Schurz. Mabo entdeckte ihn, als er...« Sie hüstelte abermals und zog es vor, ihren Satz nicht zu beenden, dankbar für die Dunkelheit, die sie umfing.
    Mit leisem Lachen zog Robert sie aufs neue an sich. »Jetzt fällt es mir wieder ein - ich habe den Pinsel an mich genommen, als ich mit Paul und Stephen in Xibalba war.« Ein Scha uer überlief ihn. Was für ein Glück, dachte er, daß Helen nicht miterleben mußte, was dort unten geschehen ist und vorher schon, bei der grausigen Heilungszeremonie auf dem Dach der Ka'ana: So war ihr das Ärgste jedenfalls erspart geblieben.
    »Weißt du noch«, fragte er rasch, um die düsteren Erinnerungen zu vertreiben, »was Ja'much über den Jadepinsel erzählt hat?«
    »Wie könnte ich das vergessen«, antwortete Helen, »wie könnte ich irgend etwas von dem vergessen, was in den letzten Wochen geschehen ist.« Im stillen dankte sie den übernatürlichen Gewalten, daß Robert nicht mitansehen mußte, wie Ixnaays Leib Zoll um Zoll gelähmt und versteinert worden war: So war er vor dem Schlimmsten doch immerhin verschont geblieben. »Laut Ja' much stammt der Jadepinsel aus dem Schatz des Canek von Tayasal. Nach einer alten Prophezeiung soll er viele Jahrhunderte nach dem Untergang des letzten Mayakönigreichs wiederauftauchen, um durch die Hand eines Kundigen die versunkene Welt der Maya wieder zum Leben zu erwecken.« Im Dunkeln tastete sie nach seiner Hand, die den Jadepinsel umschlossen hielt. »Und glaubst du denn, daß du dieser Kundige bist? Bisher jedenfalls haben sich die Prophezeiungen der alten Seher nicht als besonders zuverlässig erwiesen - glücklicherweise«, fügte sie in jähem Erschrecken hinzu.
    Sie schrieben den 3. September, einen Dienstag, oder Fünf Cimi Neunzehn Tzul nach dem Kalender der Maya. So oder so lag das Datum, an dem der wiederverkörperte Götterbote nach den alten Prophezeiungen sterben sollte, bereits sechs Tage zurück.
    »Nun, wir werden sehen«, sagte Robert. »Ich hätte nicht übel Lust, diesen Pinsel bald einmal auszuprobieren.«
    »Aber doch nicht jetzt, Sir?« fragte Helen mit Pferdeburschenstimme, und erst als Mabo Stunden später, in tiefer Dunkelheit, zum ungezählten Mal vor dem Türloch lauschte, war aus Mr. Thompsons Hütte nichts Stürmerischeres mehr zu hören als der zweifache gleichmäßige Atem gestillten Verlangens und endlich gefundenen Glücks.

6
     
     
    »Ihr habt vollkommen recht«, gab Robert zu, »wir müssen wachsam bleiben.« Doch seine Worte paßten weder zu seiner geistesabwesenden Miene noch zu der zerstreuten Gebärde, mit der er den Pinsel zwischen zwei Fingern wippen ließ. Es war nur allzu offensichtlich, daß er darauf brannte, zu seinem Gemälde zurückzukehren.
    Auch heute früh hatte er sich, ebenso wie am Vortag, mit dem ersten Morgenlicht auf das Dach der Tempelruine begeben, wo Mabo und Ajkech eine Staffelei für ihn gezimmert hatten und einen reichlich krummen Rahmen, um darin den größten Leinwandfetzen auszuspannen, der sich an diesem Ort auftreiben ließ. Aus gesottenem Tierfett und
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