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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes
Autoren: Andreas Gößling
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wankten Herr und Diener in wunderlicher Umschlingung die hundertfünfzig Trümmerstufen hinauf.
    So rasch ihre Verlegenheit und die Schluchzer es erlauben mochten, die ihr noch immer wie kleine Quecksilberbälle durch die Kehle rollten, berichtete Helen unterdessen, was in seiner Abwesenheit geschehen war: wie Ixnaay und sie ihre Flucht aus Kantunmak vorbereitet hatten; wie die Verzauberte bereits auf dem Fluß mehr und mehr dem lähmenden Gift erlegen war; wie Mabo und Ajkech sie hier in Ixt'u'ulchac schon den Hügel hinauftragen mußten, da Ixnaay Arme und Beine nicht mehr bewegen konnte; wie Ixnaay ihn, Henry (zum letzten Mal Henry, dachte Helen), beschworen hatte, sie am gleichen Tag, an dem auch ihre Lippen zu Stein würden, davonziehen zu lassen nach dem alten Brauch der Priesterinnen Ixquics: mitsamt ihrer Mondbarke zwischen Menschenwelt und Sternenhimmel schwebend und ihrer Göttin so zumindest im Sterben noch einmal nah.
    Schweigend stiegen sie weiter die Treppe empor. Obwohl Robert Thompson auf ihren atemlosen Bericht nichts erwiderte, spürte Helen, wie sehr es auch ihn berührte, daß Ixnaay im Sterben gleichsam wieder zu der Steinfigur vor dem Tor von Kantunmak wurde, der sie schon zu Lebzeiten so ähnlich sah. Während ich selbst, dachte Robert, durch Ixnaays Heilkunst von meiner Versteinerung endlich befreit bin, die mich nicht erst befiel, als ich mit jener Stele zu Boden stürzte, sondern lange vorher, in England, durch Mary, Vater, in meiner Kindheit, oder noch weiter, viel weiter zurück. Im Gehen bewegte er vorsichtig seinen Rücken, spannte seine Muskeln gegen den Druck des Silbertuchs an und spürte weder Taubheit noch Schmerz. Nur die Wunde in seinem Genick klopfte weiterhin leise, wie ein Uhrwerk, das über seinen Schultern in Gang gesetzt worden war.
    Sie traten auf den First der Tempelruine. Robert fühlte sich gänzlich entkräftet, sein Atem ging keuchend, seine Beine waren weich wie Gallert. Ohne Henrys Schultern loszulassen, erhob er seinen Blick zu der riesenhaften Ceiba, die auf dem Tempeldach aufragte, wohl achtzig Schritte hoch. Vor der orangeroten Abendsonne sah ihr fächerförmiges Astwerk aus wie das gespreizte Gefieder eines majestätischen Vogels, der sich sogleich in den Himmel erheben würde.
    »Geliebte«, sagte Robert leise, nur dieses eine Wort. Seine Stimme versagte, ebenso seine Knie. Er sank zu Boden, auf einen mit Moos bedeckten Steinbrocken, und zog Henry mit sich.
    Die Vögel hatten ihr abendliches Konzert begonnen, aus hunderttausend Kehlen pfeifend und kreischend, doch Robert nahm es nur ganz am Rande wahr. Aus dem Schatten zwischen den Wurzelstrahlen der Ceiba kamen nun auch Mabo und Ajkech herbei, die das Seil, das die Mondbarke hielt, im Geäst des Baumes verknotet hatten. In den Gesichtern des Mestizen und des kleinen Kriegers leuchtete die Freude über Roberts Erwachen, aber auch das bemerkte er in diesen Momenten kaum.
    »Geliebte«, flüsterte er, zum zweiten Mal in seinem Leben. Sein Blick haftete auf der silbernen Sichel, die hoch oben im Wipfel der Ceiba schwebte, und sein Arm umklammerte die schmale Gestalt an seiner Seite, als ob er sie niemals mehr loslassen wollte.

5
     
     
    Ein köstlicher Duft drang an seine Nase, nach Tortillas und gebratenem Hühnerfleisch. Er schlug die Augen auf und sah um sich. Neben ihm, am Rand seiner Bettstatt, saß eine schlanke Gestalt in weißer Tunika. Zögernd streckte er eine Hand nach ihr aus. Es war ja nicht möglich, dachte er, daß sie hier bei ihm saß. Dämmerlicht erfüllte die Hütte, und ohnehin konnte er nur ihr Profil sehen, da sie halb von ihm abgewandt saß, den Kopf ein wenig gesenkt. »Ixnaay?« Die Gestalt drehte sich zu ihm, mit einem Lächeln, das ihn vollends verwirrte. »Henry!« rief er aus und zog seine Hand vorsichtshalber ein Stück zurück.
    Hatte er jetzt endgültig den Verstand verloren? Wie konnte es nur sein, daß hier am Rand seines Lagers eine junge Frau saß, mit schimmernd hellbrauner Haut, im anliegenden Gewand, unter dem sich ihre kleine, doch wohlgeformte Büste abzeichnete - und daß dieses Mädchen mit dem verzaubernden Lächeln die Züge des Pferdeburschen Henry trug?
    Robert starrte sie an, mit einer Miene, in der sich Hoffnung, Freude und Verwirrung aufs wunderlichste mischten. Helen genoß es, seinen Blick auf sich zu fühlen und zu spüren, wie er sich mühte, das Rätsel auf seiner Bettkante zu lösen. Zugleich war ihr ein wenig bang zumute, denn noch schien nicht
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