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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes
Autoren: Andreas Gößling
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mit Worten erklären können, aber jede Einzelheit dieser Szene, die anwesenden Personen, ihre Gebärden und Mienen, selbst die gebeugte Haltung der Palmen, die Farbe des Himmels und des Meeres, schien ihm Bestandteil eines tiefgründigen Rätsels, das ihm, ihm allein damals gestellt worden war. Und er hatte versagt, ja, er hatte nicht einmal erkannt, daß es sich um ein Sinnbild seines eigenen Lebens handelte.
    In jenem länglichen Schatten zu seiner Rechten (mit den Umrissen der liegenden Ixnaay) kauernd die drei Maya: der Knabe, der Mann in jungen Jahren, der uralte Greis. Meine Aufgabe, dachte Robert, indem er mit dem Pinsel in die Luft stieß, nach einer Mücke, die ihn hartnäckig sirrend umkreiste - meine Aufgabe war es, endlich vom Knaben zum Mann zu reifen. Aber ich erkannte nicht, daß ich diesen Lebensschritt schuldig geblieben war, da ich noch immer kindischen Phantasiegebilden nachjagte - ja, ich wollte es nicht einmal wahrhaben, als der Mann in jungen Jahren, in meinem eigenen Alter, vor meinen Augen aus dem Triptychon herausgeschossen wurde.
    Er grübelte über dem Rätselbild, mit rastlosem Blick von dem kauernden Trio zu den rostigen Kanonen, von der weißen Holzfassade zum Jadeglanz der Karibik, von Henrys Lächeln zur hingestreckten Silhouette Ixnaays fahrend, und auf einmal fühlte er, daß sich das Bild vor ihm verschloß. Das feine Gespinst der Bedeutungen, der hintergründigen Verbindungen, die alles und jeden auf dem Gemälde miteinander verwoben hatten, entglitt ihm, wie angestrengt er sich auch bemühte, es mit seinem Geist zusammen-, mit seiner Seele festzuhalten.
    Unterdessen war die Sonne schon zur Hälfte im Ozean des Dschungels versunken, den Himmel mit blutigem Glanz überziehend, und die gefiederten Bewohner der Wäßrigen Erde begannen mit millionenfachem Pfeifen und Kreischen ihr abendliches Konzert. Robert starrte auf das Bild, das klein und schief auf seiner Staffelei unter der Ceiba stand, und der Schmerz in seinem Nacken, unter dem Fledermauspflaster Ixnaays, pochte nun so heftig wie ein zweites, angstvoll verkrampftes Herz.
    Erbärmlicher Narr, dachte er, was hast du dir wieder zurechtspintisiert? Daß alle diese Personen an jenem Julisonntag im Park des Gouverneurs zusammengekommen sind, um dir wie in einer Scharade dein Leben feierlich vorzuspielen? Daß Helen nur für dich als Knabe verkleidet war und daß jener Indio sich nur für dich zusammenschießen ließ - alles nur für dich, damit du erkanntest, daß du von kindlicher Blüte ins welke Greisentum überzusinken drohtest, ohne jemals zu männlicher Reife gelangt zu sein? Und du wagst es zu beteuern, daß du Helen liebtest - und bist doch ganz und gar außerstande, in ihr einen eigenen Menschen, mit eigenen Gedanken und Gefühlen, einem eigenen Leben zu sehen, das sich mit deinem nur ganz von außen berührt!
    Robert stöhnte auf und riß seinen Blick gewaltsam von dem unseligen Gemälde los, auf dem nur sein Scheitern prangte, seine weithin leuchtende Schande, wie ihm auf einmal schien. Die Vögel kreischten und pfiffen, jeden anderen Laut übertönend, und als er zur Treppe hinübersah, erschien dort soeben Helen, gefolgt von einem stämmigen Rotschopf in königlicher Khaki-Uniform.

8
     
     
    Das muß jener Sergeant Chillhood sein, von dem Helen erzählt hat, dachte Robert, im ersten Moment viel zu entgeistert, um zu begreifen, was er vor sich sah:
    Chillhoods nackter, mit Sommersprossen übersäter Arm um Helens Hals. Sein Revolver an ihrer rechten Schläfe, und daneben ihre Augen: weit geöffnet, flehentlich auf ihn gerichtet, ihr ganzes Gesicht angstverzerrt und grau. Ich werde dein Leben retten, und wenn es meines kostet, Geliebte, durchfuhr es Robert, der sich eben auf die beiden zu bewegen wollte, als hinter Chillhood ein weiterer Soldat auf den Tempelfirst trat: wahrhaftig jener Sergeant Muller, mit dem er damals im Park von White House so häufig geplaudert hatte.
    Robert hielt inne, mitten auf dem Tempeldach, mit der rechten Hand den Jadepinsel umklammernd. Der Schmerz tobte in seinem Nacken, aber er zwang sich, ihn zu ignorieren und seine Gedanken auf die beiden Soldaten auszurichten. Charles Muller schien kaum noch er selbst zu sein: Sein Blick flackerte, sein Haar war schweißnaß, seine Uniform zerfetzt. Vor seine Brust hielt er, als lebenden Schutzschild, Ajkech gedrückt, dessen Kopf vornüber hing, als ob der kleine Krieger ohne Bewußtsein wäre.
    Dies alles registrierte Robert binnen weniger
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