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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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können sich ändern. Und so, wie um all das getane Übel – ich denke an Zino – im Dorf wiedergutzumachen, ist die Alte, oder zumindest ihr Geist, dann in der Person der kleinen Neve wiedergekehrt, die Wunder vollbrachte, Menschen heilte und keine Kälte spürte. Neve spürte keine Kälte, weil sie dort unten am Grund des Höllentors ihre Larvenpuppe hatte, eingefroren in ihrem Rachegrinsen, eingehüllt und beschützt vom ewigen Eis, in finsterer Welteinsamkeit. Aber ihre Seele aus Eis, durch Gottes Willen erlöst, konnte diesen Ort des Todes verlassen, heraus aus ihrem gefrorenen Gehäuse, und war ins Dorf zurückgekehrt, in den Körper der kleinen Neve, wo sie dann anfing, Gutes zu tun, denn Böses hatte sie schon genug getan. Deshalb spürte das Mädchen auch keine Kälte: In sich trug sie eine gefrorene Seele, die sich vorgenomen hatte, fortan Gutes zu tun, ein Stück Eis, das zu einer Flamme wurde, der Flamme der Liebe.
    Neve starb 1948 mit neunundzwanzig Jahren infolge einer mysteriösen Krankheit, bei der sich innerhalb eines halben Tages ihr gesamter Körper auflöste, als wäre er aus Eis gewesen und nun geschmolzen. Sie konnte nicht einmal beerdigt werden, denn es blieb nichts als ein großer Wasserfleck auf dem Boden von ihr übrig.
    Ihre Mutter, Maria Corona Menin, sammelte ein wenig von dem Wasser auf, füllte es in eine Flasche, die sie fest mit einem Korken verschloss und dann auf das Kaminbord stellte, wo es heute noch steht. Es ist ein Wasser, das nicht verdunstet, reglos dasteht und wartend das stille, leere Haus betrachtet, das außer den Geistern der Vergangenheit niemand mehr bewohnt.
    Aber das ist eine andere Geschichte, und wie gesagt wünsche ich mir, sie eines Tages erzählen zu können.
    Die Tat meines alten Freundes Garlio jedenfalls, der die Hexe Melissa mit einem Tritt in die tiefsten Abgründe beförderte, kam ihn teuer zu stehen.
    Er starb einige Jahre später allein und voller Verzweiflung an inneren Blutungen. Man fand ihn nach tagelanger Stille in seinem Haus hinter der Tür kniend, die Hand noch am Griff, im verzweifelten Versuch, die Tür zu öffnen, um nach Hilfe zu rufen. Alle glaubten an einen unglücklichen Schicksalsschlag, aber ich bin sicher, wo ich heute die Geschichte dahinter kenne, dass es die Rache der Hexe Melissa war. Denn der Körper des armen Garlio war gefroren von der Kälte, hart wie ein Marmorblock, und dass er gerade während des eisigen Winters starb, war sicher kein Zufall. Die Alte hatte ihn mit ihrem Todeshauch bestraft, einem unerbittlichen Todeshauch, der die Menschen samt ihrem Schrecken in den Augen zu Eis gefror.
    Ich muss gestehen, dass mich manchmal die Angst vor der Hexe heimsucht, schließlich war ich ja, wenn auch unfreiwillig, Zeuge von Garlios Tat. Was mir wiederum Mut macht, ist der Gedanke, dass ich die Carabinieri rufen wollte, damit jene geheimnisvolle Frau, die unversehens aus dem gefrorenen Bauch der Erde hervorgestiegen war, eine würdige Bestattung bekäme. Das immerhin muss die Alte mir zugute halten, und vielleicht hat sie das auch bereits. Denn dreimal bin ich in meinem nun recht langen Leben schon vor dem Erfrieren gerettet worden. Eine barmherzige Hand des Schicksals schützte mich oder, wenn wir so wollen, ein verfluchtes Glück.
    War es vielleicht das Werk der Hexe Melissa, weil ich sie bestatten wollte? Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube ja, und ihr zum Dank und vor allem, um sie mir gnädig zu stimmen, habe ich meine jüngste Tochter auf ihren Namen getauft: Melissa.
    Der Stock von Raggio befindet sich immer noch, jetzt in einem schützenden Glasschaukasten, an der Wand der Osteria in Camino al Tagliamento. Die Osteria trägt den Namen Al vólt di sède , Zur Seidenraupe , und liegt in der Via Roma Nummer 35. Dort kann ihn jeder zu jeder Zeit bewundern, außer am Montag, dem Ruhetag.
    Wer weiß, ob mein Wohltäter, jener Mann, der mir am 27. November 2003 das Manuskript von Zino überreichte, jemals dieses Buch lesen wird. Falls ja, wird er dabei vielleicht zu seiner Freude oder auch Enttäuschung entdecken, dass ertanisches Blut in seinen Adern fließt. Und jetzt verstehe ich auch, warum er damals, als wir in der Bar Stella di Sabina zusammensaßen, hin und wieder auf die Berge hinausschaute und jedes Mal wiederholte, wie sehr ihm der Ort gefiele und er gern noch länger da geblieben wäre. Es war die ertanische Seite in ihm, die da aus ihm sprach, eine wilde und rebellische Seite, welche den freien Raum liebt,
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