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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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Foiba, das Bier holen. Langsam stiegen wir an den Haken, die zum Teil schon unsere Schnittervorfahren in die Felswand gerammt hatten, den senkrechten Schlauch hinab bis zum vereisten Boden. Ich richtete meine Lampe auf die Wand, wo die Kästen Bier aufgestapelt lagen, und um ein Haar wäre auch ich zu Eis erstarrt. Mit zitternder Stimme rief ich zu Garlio, er solle auch mit seiner Lampe herleuchten. Garlio richtete den Lichtstrahl auf die Stelle, die ich ihm gezeigt hatte, und rief nur: »Madonna!« Am Tag zuvor hatte sich wegen der außergewöhnlichen Hitze dieses Sommers ein türhoher Block aus der Eiswand gelöst. Im Innern der so entstandenen Vertiefung zeigte sich da, wie auf einem Thron sitzend und vollkommen gefroren, eine ganz in Schwarz gekleidete Alte, mit weit offenen Augen. Eine handbreitdicke Schicht durchsichtiges Eis bedeckte sie, als wäre sie in einem gläsernen Sarkophag versiegelt. Bis auf die kleinsten Einzelheiten ließ sich alles genau erkennen. Solange ich lebe, werde ich nicht ihre dunklen, spindeldürren Hände im Eis vergessen, knotig wie Hagebuchenwurzeln. Dann die nackten Füße, lang und krumm wie zwei Hippen. Aber mehr als alles andere waren es die Augen, die mir Angst und Schrecken einjagten. Ein starrer, böser und harter Blick, grausam wild, einfach unerträglich. Die Alte schaute uns an und schien diese Augen auf einmal zu bewegen, wie um zu sagen: »Kommt her, ich werd’s euch schon zeigen.«
    Garlio sagte, es sei vielleicht eine alte Schnitterin aus den Zwanzigerjahren, die durch einen tragischen Unfall in die Foiba gestürzt war und nie wiedergefunden wurde, weil der erste Septemberschnee sie gleich bedeckt hatte. Zuerst wollte ich nach dieser grausigen Entdeckung die Carabinieri benachrichtigen. Dann hielt ich die Lampe näher hin, um besser sehen zu können, und dabei war mir, als spürte ich einen kalten Todesatem aus ihrem runzligen Mund herausströmen. Um ihren Hals bemerkte ich einen Rosenkranz und darüber einen Faden, der einen halben Zentimeter tief ins Fleisch schnitt.
    Ich glaube nicht, dass Garlio das gesehen hat. Wenn ja, dann hätte er sicher keine Zeit damit verloren, mich in eine lebhafte Diskussion zu verwickeln, als er hörte, dass ich die Carabinieri rufen wollte. Denn er wollte keine Carabinieri. Die würden uns ja nur Ärger machen, uns verhören und darüber hinaus noch gar unseren Kühlschrank schließen. Doch ich bestand darauf, sie zu benachrichtigen. Denn im Grunde handelte es sich immer noch um eine arme Tote, die das Recht auf eine christliche Bestattung hatte. Während wir diskutierten, betrachtete uns die Alte weiter mit unerschütterlichem Sarkasmus, so als scherte sie sich einen Dreck um uns und überhaupt um gar nichts.
    Und mehr als mein Vorschlag, die Carabinieri zu rufen, waren es vielleicht gerade diese provozierenden Augen, die meinen Freund so nervös machten. Garlio trat näher an die Alte heran, und während er noch ein »Geh zum Teufel, du Hurenschlampe« brummte, gab er ihr solch einen Tritt, dass sie in die Spalte stürzte, die sich mit der Hitze zwischen dem Eis und der Felswand geöffnet hatte, und foibaförmig unendlich in die Tiefe führte. Eine ganze Weile hörten wir noch die dumpfen Schläge des gefrorenen Körpers beim Hinabstürzen, dann ein mehr klirrendes Zerbersten wie bei zersplitterndem Glas, bis schließlich alles verstummte in den Abgründen dieses Höllenschlunds.
    Im Licht der Lampen schauten Garlio und ich uns in die Augen, nahmen wortlos jeder einen Kasten Bier, stiegen das Höllentor wieder hinauf und gingen zurück zum Marmorbruch.
    Während ich ihm vorausging, rief er mich unversehens von hinten an. Ich drehte mich um, er starrte mir in die Augen und sagte nur: »Kein Wort über die Alte. Klar?«
    »Klar«, erwiderte ich, und damit war die Geschichte beendet.
    Aber heute, nach Jahren Abstand und nachdem ich das Manuskript von Zino gelesen habe, weiß ich um die Identität jenes im Eis erstarrten Körpers, entdeckt durch Zufall und außergewöhnliche Hitze. Es war die alte Hexe Melissa, von den Schnittern mit einem Faden erdrosselt und dort unten begraben, im gespenstischen ewigen Eis, tief im Herzen des Höllentors. Aber sie rächte sich und bestrafte ihre Mörder, indem sie die unmittelbaren Täter in kurzer Zeit einen gewaltsamen Tod sterben ließ; den Urhebern des Mordplans hingegen, Raggio Martinelli und Zino Corona, behielt sie einen qualvoll langsamen und grausamen Tod vor.
    Aber auch gemeine Menschen
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