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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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schönen Dinge gewesen sein, die ich in diesem Drecksleben gesehen habe. Mit ihrem Anblick werde ich zufrieden sterben.
    Noch einmal übergebe ich jetzt Gott meine Seele, denn ich muss nun die offene Rechnung mit meinem Freund Raggio begleichen. »Wer tötet, muss sich selbst töten«, schrieb Maddalena Mora auf den Bottichboden.
    Ein letzter Gedanke geht zu meinem Dorf, meinen Leuten, meiner Mutter und meinem Vater und zu allen den Frauen, die ihre Kinder nicht leben ließen und sie mit Stricknadeln getötet haben, und schließlich zu dieser letzten Frau, die, so Gott will, meinen Sohn gebären und leben lassen und auch in meinem Namen lieb haben wird.
    Bevor ich dieses Heft in mein Hemd wickle und in den Behälter der Gasschutzmaske stecke, bitte ich alle um Vergebung, wie ich ihnen auch vergebe, denn auch ich wurde von anderen schlecht behandelt. Im Frieden Gottes und in seiner göttlichen Barmherzigkeit verlasse ich diese Welt und dieses Leben, das mich zerstört hat.
    Severino Corona, genannt Zino. San Michele al Tagliamento. 30. Juli 1920. Amen.

Epilog
    Wie mir mein Großvater erzählte, wurde Zino zwei Tage später zufällig vom Gutsverwalter gefunden. Er hatte sich an einem Weinrebenast erhängt, unweit des großen Landhauses, wo er ein willkommener Gast gewesen war.
    Raggio hatte sein finsteres Versprechen gehalten. Er hatte den Rivalen mit dem Stock getötet; denn auch wenn Zino schon früher daran gedacht hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen, den endgültigen Entschluss dazu fasste er erst, nachdem er den Stock an der Wand der Osteria gesehen hatte.
    Nach der sehr bewegenden Lektüre dieses zugleich schrecklichen und ergreifenden Manuskripts habe ich in Erto Nachforschungen über die einzelnen Schicksale der im Heft genannten Personen angestellt.
    Die Frau von Raggio starb zwölf Jahre nach ihrer Einlieferung in die Irrenanstalt von Pergine Valsugana und wurde dort beerdigt. Sie war vierzig Jahre alt.
    Wegen guter Führung kam Zinos Bruder, Bastianin Corona, mit neunundvierzig Jahren im Sommer 1936 nach sechzehn Jahren Haftstrafe wieder frei. Davon waren ihm vier Jahre erlassen worden. Er nahm seine Arbeit als Schmied wieder auf, bis er im Alter von neunundsechzig Jahren, im November 1966, während der verheerenden Überschwemmungen in Italien starb. Dabei wurde er samt seiner Schmiede fortgerissen, obwohl er sie nach der Katastrophe des Vajont-Staudamms schon weiter oben, am Rio Moliesa, neu aufgebaut hatte.
    Zino wurde nach seinem ausdrücklichen Willen auf dem Friedhof von Erto beigesetzt. Sie transportierten ihn mit einem Karren dorthin, auf Kosten der Familie, die ihn beherbergt hatte.
    Von Neve, dem Mädchen, das keine Kälte spürte, werden unglaubliche Dinge überliefert, die, wie ich glaube, ein ganz allein ihr gewidmetes Buch verdienen. Vieles dazu habe ich schon in Notizbüchern angesammelt, was ich beizeiten ausarbeiten möchte. Das Mädchen ist jung im Ruf der Heiligkeit gestorben.
    Aber das ist noch nicht alles.
    Nach der beunruhigenden Lektüre des Manuskripts kam mir unversehens wieder ein Vorfall in den Sinn, der mich jetzt nach Jahren noch erschauern lässt, weil auf diesen Seiten sein Geheimnis gelüftet wird, denn mein Landsmann nimmt hier den Faden einer unbekannten und seit mehr als fünfundachtzig Jahren verloren geglaubten Geschichte wieder auf.
    Am 27. Juli 1974 arbeitete ich im Marmorbruch am Monte Buscada und hatte gemeinsam mit dem alten Garlio gerade Schicht an der Seilsäge, die den Marmor schneidet. Es war ein brennendheißer Sommer, wie selten. Da war es eine Tortur, im Marmorbruch zu arbeiten. Und so wechselten wir uns mit den anderen am Stahlseil ab, damit wir uns zwischendurch im Schatten eines aufgespannten Sonnentuchs ausruhen konnten.
    Unter der brennenden Sonnenglut kamen gegen vierzehn Uhr Cice Caprin und der andere Carle nach getaner Schicht zu uns und drängten uns aus dem Schatten. Darauf sagte Capo Argante Gattini zu mir und Garlio, wir sollen doch zwei Kästen Bier aus der Palazza-Foiba holen gehen. Das ist eine beängstigende Höhle, die schon in der Antike von den Schnittern Tor zur Hölle genannt wurde und bis heute als Kühlraum benutzt wird.
    So nutzten auch wir diesen wie lebendiges Glas wirkenden Höhlengrund in hundert Meter Tiefe zwischen durchsichtigen glitzernden Kristallwänden und ewigem Eis zur Aufbewahrung verderblicher Lebensmittel. Es war unser natürlicher Gefrierschrank.
    An diesem 27. Juli 1974 stiegen Garlio und ich also hinunter in die
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