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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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uns vorbeigehen sah, bleibt traurig zurück. Doch auch wer traurig zurückbleibt, geht seinerseits an jemand anderem vorbei, der dann auch wieder traurig zurückbleibt; so ist das Leben ein endloses Vorbeigehen.« Bei diesen Worten nahm er einen kleinen Stein und warf ihn in den schnell vorbeifließenden Vajont.
    Da musste ich weinen, nicht eine Minute länger konnte ich an diesem Ort bleiben, so voller Wahrheit und Traurigkeit. Und während ich Gioanin noch zum Abschied umarmte, fragte er, ob ich nichts über Raggio wüsste. Ich antwortete, dass ich ihn seit der Rauferei am 30. September nicht mehr gesehen hätte. »Früher oder später wird er schon auftauchen«, erwiderte er kurz.
    Ich sagte ihm nicht, dass sein Stock bereits aufgetaucht war.
    Der Rückweg hoch ins Dorf führte mich an der Schmiede meines Bruders vorbei, die ebenfalls am Ufer des Vajont lag. Alles war zugesperrt und verlassen, und das Wasser lief über das still stehende Mühlrad, das zu besseren Zeiten noch den Eisenhammer auf und ab bewegt hatte. Ich machte eine Runde um das Haus, wo jetzt überall die Brennnesseln wuchsen, dann ging ich weiter. Und ich fragte nicht einmal nach, warum der Bursche, dem ich doch zuvor die Schlüssel geben ließ, die Schmiede meines Bruders nicht in Betrieb genommen hatte.
    Tags darauf ging ich noch vor meinem Aufbruch ins Friaul zum Friedhof, um die Toten zu grüßen. Ich sprach das Requiem an den Gräbern meiner Freunde, denen der Schnitter, die durch die alte Melissa starben, und schließlich noch an dem von Jacon Piciol, der in einem Fass beerdigt wurde, weil man ihn nicht vom Eis befreien konnte. Dann ging ich zu meinen Lieben, meinem Vater, meiner Mama, den guten und unglücklichen Tanten und zu Maddalena Mora, die sich im Stall erhängt hatte. Und ich besuchte den Limbus, wo die ungetauften Kinder begraben lagen und wo auch meins war, nachdem es schon einmal in einem Käse begraben worden war. Dann schließlich war es genug, und ich entfernte mich von diesem Totenort, wo auch ich bald enden würde.

Am 26. Juli bin ich noch bei Dunkelheit frühmorgens von Erto aufgebrochen, denn ich wollte keine Bauern treffen und sie grüßen müssen. Auf dem Pass San Osvaldo, als es anfing zu dämmern, begegnete ich dann doch schon einem aus Cimolais, der zum Mähen auf der Hochweide von Galli, unterhalb der Lodinascharte, unterwegs war und mich grüßte. Ich kannte ihn, denn viele aus Cimolais stammen aus dieser Gegend. Er fragte mich, wo ich schon so früh mit dem Tragkorb hinginge. Ich erwiderte, dass ich Holzwaren im unteren Friaul verkaufen wolle. Dann würden wir uns ja im November wiedersehen, sagte er darauf, denn im November kehrten die fahrenden Händler aus dem Friaul zurück. Er konnte nicht ahnen, und ich sagte auch nichts, dass er mich weder im November noch je sonst wiedersehen würde.
    Unter Tränen verließ ich meine Gegend, so wie man die Tür hinter sich schließt, wenn man ins Ausland geht, und nach zwei Tagen war ich von Neuem im großen Haus in San Michele al Tagliamento.
    Jetzt sitze ich hier im Stall und schreibe weiter meine Geschichte ins Heft, die nun fast am Ende ist, wie das Heft und der Bleistift.
    Dann ist sie zu mir gekommen und gleich erschrocken über mein abgemagertes und unverändert weißes Gesicht: Die Reise in mein Dorf habe mir ja mehr schlecht als gut getan. Sie wusste nicht, ich hätte es ihr auch nicht gesagt, dass nicht die Zeit im Dorf mir schlecht getan hatte, sondern der Tod, der mit zwei Nägeln befestigt an der Wand einer Osteria in Camino al Tagliamento hing. Es war der Stock von Raggio, der mich verfolgte und mager und weiß machte, wie ein vom Wasser des Vajont abgeschliffenes Stück Holz.
    Gott gebe, dass diese Geschichte bald endet, barmherziger Herr, gib mir die Kraft, sie schnell zu beenden, denn ich kann nicht mehr.
    Während der wenigen Stunden Schlaf, die ich in der letzten Nacht in Erto hatte, träumte ich, wie meine Mutter mir in ihrem Bett ein wenig Platz machte, weil ich vor Kälte halb erfroren war: »Komm zu mir, damit ich dich aufwärmen kann, so wie früher, als du klein warst.« Aber als ich zu ihr auf das Strohlager kroch, um mich aufzuwärmen, kam ihre Schwester, die Tante mit den Ameisen im Mund, und sagte meiner Mama, sie solle mir keinen Platz machen, weil ich nie wieder warm werden würde. Denn von nun an sei ich aus Eis, und ließe sie mich zu ihr ins Bett, würde ich auch sie in Eis verwandeln, und sie würde zu Eis gefroren sterben, wie schon
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