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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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Jacon Piciol. Aber meine Mutter wollte nichts davon hören, nahm mich bei der Hand und brachte mich zum Aufwärmen ins Bett. Dann kam die trunksüchtige Tante mit dem Aussehen eines Totenskeletts dazu, packte mich am Arm und riss mich mit einem Ruck von meiner Mama weg und schrie, ich solle endlich damit aufhören, Leute umzubringen, ich hätte schon genug getötet, jetzt wäre es an der Zeit, dass jemand mich tötete, weil der Teufel mir ins Blut gefahren sei und erst wieder herauskomme, wenn ich tot sei. Während sie so schrie und mich dabei immer weiter wegzog, krabbelten aus ihrem Mund die betrunkenen Ameisen heraus, wie damals, als sie hinter der Tür, Wein erbrechend, tot zusammenbrach und mir die Ameisen dabei auf den Kopf fielen. In diesem Moment wachte ich auf, schweißgebadet, zitternd vor Angst und mit so wildem Herzschlagen in der Brust, als schlüge Bastianins Eisenhammer auf den Amboss. Ich hätte nie gedacht, dass die alte Tante, die zu Lebzeiten so gut zu uns war, im Traum als der Tod selbst erscheinen und derart böse werden würde. Ganz erschüttert war ich von diesem Traum und glaubte, dass meine Tante sich vielleicht mit der alten Melissa verbündet hatte und mich so heimsuchte, um mich für alle meine Sünden zu bestrafen. Aber wenn es das war, warum machten sie denn so viele Umstände? Bald würde ich sie ja selbst aufsuchen, sie und diese andere Schurkin, ein für allemal, und gewiss nicht nur im Traum.
    Währenddessen kamen mir ständig die Worte meiner Lebensmeisterin in den Sinn, jener Maddalena Mora, die sich am Balken im Stall aufhängte und die, bevor sie sich die Schlinge um den Hals legte, mit Bleistift auf den Boden des Milchbottichs schrieb: »Wer tötet, muss sich selbst töten.« Auch ich hatte Raggio getötet, aber nicht allein das, ich hatte auch noch alles unternommen, dass andere wegen mir sterben mussten, und so bleibt nichts anderes, als mich selbst zu töten. Wer tötet, muss sich selbst töten.
    Vor dem Sterben hätte ich gern noch einmal meinen Bruder Bastianin besucht, aber ich brachte nicht den Mut auf, in das Gefängnis von Udine zu treten und ihm alles zu sagen. Denn wenn ich ihn besuchen ginge, müsste ich ihm auch alles sagen, und das würde seine übrigen Jahre nur noch schlimmer machen. Besser, wenn er nichts erfuhr, so konnte er mich in guter Erinnerung behalten, und das würde ihm vielleicht auch helfen, die restlichen Jahre im Gefängnis durchzustehen.

Am Abend des 29. Juli kam die Frau des Padrone zu mir in den Stall und blieb auch länger, wie immer, wenn ihr Mann außer Haus war. Als sie mich sah, wurde sie ganz bleich und fand, dass ich nach bloß einem halben Tag noch viel schlechter aussehe und man einen Arzt rufen müsse. Das sei nicht nötig, erwiderte ich, ich sei mein eigener Arzt, denn es gibt bestimmte Krankheiten, die dir kein Arzt heilt, nur du kannst sie heilen.
    Dann fügte ich noch hinzu, es gebe in Wahrheit einen Arzt, der meine Krankheit heilen könne, und bald würde ich ihn auch rufen, denn schon seit einiger Zeit hielte er sich hier im Umkreis auf. Sie verstand nicht und setzte sich auf meine Knie. Da kam mir der kleine Goldring meiner Mutter mit dem Kreuz in der Mitte in den Sinn. Ich zog ihn vom kleinen Finger ab und legte ihn ihr in die Hand mit den Worten: »Er gehört dir, bewahr ihn gut auf, es ist der meiner Mutter.« Sie steckte ihn sich an den Finger und gab mir zum Dank einen Kuss, fragte mich aber gleich, warum ich ihr den Ring schenke, wo sie doch wisse, wie sehr ich an ihm hänge. Ich antwortete, ich hätte Angst, ihn zu verlieren und er drücke auch zu sehr, und deshalb solle sie ihn besser tragen. Dabei merkte ich, dass sie ihn sehr gern an ihrem Finger hatte. Dann sagte sie, es läge ihr sehr am Herzen, einmal mein Dorf zu sehen. Später, vielleicht im September, erwiderte ich; mit irgendeinem Vorwand könnten wir ja auf einen Sprung mein Dorf besuchen, seine Wälder und den Vajont, der unten fließt und Sägewerke und Mühlen antreibt, und dann die umliegenden Berge, die so hoch und eng beieinanderstehen, dass das Dorf wie am Grund eines Eimers zu liegen scheint. Inmitten dieser Berge haben sich meine Leute immer gut aufgehoben gefühlt, wie von großen Steinhänden beschützt, die Wind, Blitz und Unwetter das ganze Jahr über fernhalten. Aber kein Berg kann dich vor dem unheilvollen Schicksal schützen.
    Ich hatte den September genannt, denn danach kam die Kälte, und außerdem wäre sie mit ihrem ständig größer
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