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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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gefragt hätte: »Dieser Ring gehörte meiner Großmutter, dann ihrer Tochter, das heißt meiner Mutter. Sie gab ihn mir, bevor sie starb, und jetzt trage ihn wie eine Reliquie.« Darauf fuhr er los.
    Ich trank noch ein paar Gläser allein weiter, bevor ich schließlich in mein Atelier zurückwankte und mich zum Schlafen auf die Bank legte. Neben mir auf den Lärchenholzklotz, der mir als Nachttischchen dient, legte ich gut sichtbar das Heft, damit ich es wenigstens mit den Augen studieren konnte, denn betrunken, wie ich war, wollte ich es nicht einmal durchblättern aus Angst, dabei die Seiten zu beschädigen. Denn manche von ihnen wirkten, als würden sie gleich zu Asche zerfallen. Tags darauf stand ich früh auf, zündete den Heizofen an, stürzte einen Becher Kaffee mit Fernet gegen den Kater hinunter und nahm endlich das geheimnisvolle Heft in die Hand.
    Ich brauchte drei Tage, bis ich es zu Ende gelesen hatte. Je weiter ich las, desto stärker schlug mein Herz vor Ergriffenheit. Es war eine traurige und zugleich schöne Geschichte, wie ich sie als Kind schon ähnlich von meinem Großvater gehört hatte. Sie ist hier genauso aufgezeichnet, wie ich sie gelesen habe. Nur ab und zu habe ich offensichtliche Fehler korrigiert oder Wörter auf Ertanisch erläutert, die sonst das Verständnis zu sehr erschwert hätten. Und ich habe Absätze eingefügt, denn Zino hatte mit seinem einfachen, wie holzgeschnitzten Italienisch von der ersten bis zur letzten Zeile nicht abgesetzt, als habe er keine Zeit zum Atemholen gehabt oder Angst, nicht rechtzeitig fertig zu werden. Zwischen den letzten Seiten des Heftes war eine herausgerissen. Ich fragte mich, warum.
    Wie schon erwähnt, sind auf der ersten Seite nur ein Datum und der Satz zu lesen: »20. Juli 1920. Draußen ist es sehr heiß, aber ich fühle nur Kälte, und ich spüre Schnee, überall Schnee.«

Ich heiße Severino Corona, genannt Zino. Ich wurde am 13. September 1879 in Erto geboren und habe immer auf diesem wilden und bergigen Flecken Erde gewohnt, wo es außer Arbeit nichts Gutes gibt, aber trotzdem lebe ich sehr gern hier. Wie traurig und gottverlassen diese Gegend ist, habe ich erst Jahre später verstanden, als ich ins Friaul ging, um Holz zu verkaufen, und dort die fruchtbaren und viehreichen Ebenen sah. Aber damals war ich schon vierzig Jahre alt, und ich wäre nie von zu Hause weggegangen, hätte mich nicht eine höhere Gewalt dazu gezwungen. Es gibt nichts Schlimmeres, als seine Heimat zu verlassen, den Ort, wo man geboren wurde, mit Eltern und Freunden zusammenlebte und wo man in den Wäldern das Holz schlug, auf den Feldern das Heu mähte, den Herbst herannahen sah und am Feuer das Weihnachtsfest erwartete. Dort, wo man auch den hölzernen San Bartolomeo durch die Straßen trägt und vieles andere mehr, was mir jetzt nicht mehr einfällt, aber deswegen nicht weniger schön war. Die Menschen fühlen sich wohl bei sich zu Hause, aber können auch nicht für immer dort bleiben. Ich beneide die, welche das können, und es macht mich wütend, wenn sie sich ständig beklagen und sagen, sie würden lieber weggehen. Dabei wissen sie nicht, was für ein Glück es bedeutet, ein Zuhause zu haben. Es ist zum Weinen, wenn du deinem Dorf den Rücken kehrst. Man sollte nie von seinem Zuhause fortgehen.
    Ich habe einen acht Jahre jüngeren Bruder, der Sebastian heißt und auch Bastianin von der Smita gerufen wird, weil er als Schmied arbeitet, und die Schmiede heißt auf Ertanisch smita . Während ich das alles hier wahrheitsgemäß aufschreibe, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Auch letztes Weihnachten bin ich hierher zurückgekehrt, draußen lag der Schnee einen Meter hoch, und es war so kalt, dass die Vögel vom Himmel fielen und die Buchen aufplatzten. Ein letztes Mal wollte ich hier noch Weihnachten verbringen. Ich blieb nur für wenige Tage, dann ging ich wieder in die friaulische Tiefebene hinunter, wo ich jetzt schon seit Monaten umherziehe, seit jenem vermaledeiten Tag, an dem ich fortgehen musste, weil mich die Gewissensbisse verfolgten wie Hunde, die mich bei lebendigem Leibe fressen wollten. Nie mehr werde ich in mein Dorf zurückkehren, aber in Gedanken tue ich das ständig, denn ich denke Tag und Nacht daran.
    Wir waren noch sehr jung, als ich und mein Bruder Bastianin zu Waisenkindern wurden. Ich war fünfzehn und er sieben, als unser Vater Zolian starb. Man fand ihn auf dem Köhlerweg mit mehrfach gespaltenem Kopf. Er war ermordet worden, und man
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