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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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hatte deswegen einen aus der Siedlung Pineda verurteilt, der dann zwanzig Jahre im Gefängnis von Udine absitzen musste. Zur selben Zeit wohnte in Erto auf dem Col delle Cavalle ein Holzarbeiter, der nach dem Tod unseres Vaters immer wieder ein bestimmtes Lied sang, aber nur wenn er betrunken war. Es lautete ungefähr so: »Ach, wie gut, dass niemand weiß … und keiner wird es je erfahren, weil ich allein war.« In der Tat wusste es niemand, und keiner hegte den geringsten Verdacht, dass gerade er es war, der unseren Vater abgeschlachtet hatte. Erst auf dem Totenbett gestand er es dem Dorfpriester. Er hatte ihn rufen lassen, um ihm zu sagen, dass er es war, der Giuliano Corona, genannt Zolian della Cuaga, umgebracht hatte. Und er sagte auch, wie. Er hatte ihn mit einem pilòt getötet, einem kurzstieligen, am Ende abgerundeten Schlagholz aus Buche, das zum Dreschen von Weizen verwendet wurde. Es sieht genauso aus wie ein Salzstößel, nur fünfmal so groß. Er selbst fertigte sie an seiner Drehbank. Er war ein Experte an der Drehbank und hatte sich auf die pilòts spezialisiert. Als der Priester ihn fragte, warum er Zolian della Cuaga umgebracht hätte, antwortete dieser, dass es um eine Frauengeschichte ging, aber mehr wollte er dazu nicht sagen. Ich glaube, dass ihm unsere Mutter gefiel, aber die wollte nichts von ihm wissen, weil sie ja schon ihren Zolian hatte, unseren Vater. Daher dachte sich der Mann vom Col delle Cavalle, es wäre ein guter Plan, sie zur Witwe zu machen, dann könnte er sie sich selber schnappen. Aber der Plan misslang, weil unsere Mutter, sie hieß Lucia wie ihre Großmutter, wenige Monate später an gebrochenem Herzen starb. So hatte der Schurke mit einem Schlag gleich zwei Menschen getötet und musste dafür nicht einmal einen Tag ins Gefängnis, während der aus Pineda schon zwanzig Jahre abgesessen hatte. Er war eingesperrt worden, weil er sich mit unserem Vater immer um den Grenzverlauf auf der Cuagahöhe gestritten hatte. Damals wohnten wir dort, jetzt wohnen wir etwas weiter oben, näher am Dorf. Auch in der Osteria von Pilin hatte er ihn schon bedroht, zu jener Zeit nannte sie sich noch Il Merlo Bianco , Zur weißen Amsel , denn dort hielten sie sich eine weiße Amsel im Käfig. Viele Zeugen aus Casso hatten am Todestag meines Vaters den Mann aus Pineda gesehen, als er vom Köhlerweg her mit einem Bündel von Stöcken für den Bohnenanbau ins Dorf kam. Es war Juni, und man ging auf die Suche nach geeigneten Bohnenstangen. So wurde er beschuldigt. Man sagte, er hätte meinen Vater mit der Hippe zum Ästeschneiden erschlagen, aber ich glaube, bei näherem Hinsehen hätte jeder begriffen, dass die Schläge, die meinen Vater getötet hatten, nicht von einer Hippe stammten. Doch die Hosen von dem aus Pineda waren mit Blut verschmiert, und niemand glaubte ihm, dass es das Blut einer Gämse war, die er zwei Tage zuvor erlegt und an einen Waldbewohner verkauft hatte, der zufällig mit seinem Pferdekarren voll Saatgut des Wegs kam. So will es das Schicksal, dass manchmal auch Unschuldige verurteilt werden. Und wenn dieser Schurke vom Col delle Cavalle nicht krank geworden und fast daran gestorben wäre, hätte er auch nichts gestanden, und der Mann aus Pineda, der übrigens Giulio hieß, wäre bis zu seinem Tode im Gefängnis geblieben. Was für ein erbärmlicher Feigling! Nicht nur unsere Familie hat er zerstört, auch die von Giulio aus Pineda, der verheiratet war und zudem zwei kleine Mädchen hatte. Zwanzig Jahre lang hat er sie nicht gesehen, und seine Frau sah er überhaupt nie wieder, weil die arme Seele, zwölf Jahre nachdem man ihn eingesperrt hatte, an Tuberkulose starb.
    Unsere Mutter dagegen starb fast unmittelbar nach dem Tod des Vaters an gebrochenem Herzen, sie war so krank darüber geworden, dass sie Blut spucken musste. Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, ohne ihren Zolian leben zu müssen, so wenig wie den Gedanken, dass sie ihm hinterrücks den Kopf eingeschlagen hatten. Wie gesagt, hinterrücks, davon bin ich überzeugt; denn unser Vater war von einer Stärke und Entschlossenheit, dass er selbst einen angriffswütigen Stier zu Boden gestreckt hätte. Ohne ihn dabei zu töten, denn unser Vater konnte nicht einmal einem Frosch etwas zuleide tun. Wenn wir im Mai bei Regen zum Fröschefangen an den Vajont gingen und dabei bis zu zwei Eimer füllten, wollte er sie nie töten und enthäuten. Er sagte, er hätte nicht den Mut, ihnen mit seiner britola , einer Art
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