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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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liegen sahen, hörten sie mit dem Beten auf, zogen sie vom Boden hoch und legten sie auf die Kaminbank. Dann wischte eine ihr das Blut vom Mund, während die anderen riefen: »Lucia, was machst du?« Aber unsere Mutter konnte nicht mehr antworten, denn sie war tot. Während der ganzen Zeit saß ich zusammen mit meinem Bruder auf der anderen Bank, auch wir beteten den Rosenkranz, hatten alles mitverfolgt und mussten schließlich mit ansehen, wie unsere Mutter starb. Ich empfand einen Schmerz, als ob mir jemand die Kehle mit zwei Fingern zudrückte und ich ersticken müsste. Mein Bruder Bastianin musste weinen, aber wohl vor allem, weil ihn der Anblick des Bluts schreckte. Ich dagegen weinte, weil mir bewusst wurde, dass es unsere Mutter nun nicht mehr gab. Und falls ich es noch nicht begriffen hatte, eine der Alten sprach es aus: »Eure oma « – so klang hier das Wort Mama – »ist ins Paradies gegangen«, sagte sie leise zu mir und meinem Bruder. Ja, sie sollte ins Paradies kommen, das hatte sie wirklich verdient, unsere arme Mutter.
    Zwei Tage später wurde sie neben unserem Vater beerdigt; ein anderer kürzlich Verstorbener wurde um zwei Meter verlegt, damit sie nebeneinanderliegen konnten. So waren sie für immer miteinander vereint, jetzt konnte sie niemand mehr trennen und erst recht der Tod nicht, im Gegenteil, der Tod hatte sie ja auf ewig zusammengebracht. Mir macht der Gedanke Angst, dass man erst sterben muss, um so vereint zu sein, aber so ist es. Der Tod vereint, was die Menschen trennen. Ich denke, die Menschen reißen das Schöne immer auseinander, nur weil sie voller Neid sind.
    Vom Tag der Beerdigung an zog eine unserer Tanten zu uns ins Haus, um uns bei den täglichen Arbeiten zu helfen. Sie war uns Vater und Mutter zugleich, sehr tüchtig und lieb, nur trank sie zu viel. Wäre genug Wein da gewesen, sie hätte täglich welchen getrunken, aber für jeden Tag reichte es nicht, und so musste sie zwangsweise auch einmal darauf verzichten, was sie schließlich rettete und ihr das Leben verlängerte. Aber hin und wieder fand sie doch etwas zu trinken, dann wurde sie ganz rot im Gesicht und fing an, jedes Mal dasselbe Lied zu singen: »Die Welt, die ist ein Jammertal, sie kann mich kreuzweis, kann mich mal«, so sang sie. Die arme Frau hatte es gründlich satt, sie wollte schnellstens ab ins Jenseits. Sie war wohl um die fünfzig Jahre alt und älter als unsere Mutter. Zwischen den beiden gab es noch eine weitere Schwester, die als Hausdienerin zu einer Familie nach Mailand gezogen war. Sie kam nur kurz zur Beerdigung unserer Mutter und reiste gleich wieder ab.
    Ich ging nur bis zum vierten Jahr in die Volksschule, bekam aber in allen Fächern ein »sehr gut«. Mein Bruder dagegen verließ schon nach dem dritten Jahr die Schule und bekam nur wenige Auszeichnungen.
    Bevor meine Mutter in den Sarg gelegt wurde, zog ihr meine Tante, die Trinkerin, noch einen Ring vom Finger der rechten Hand und übergab ihn mir. Es war ein Goldringlein mit einem kleinen Kreuz. Ich steckte ihn mir auf den dicksten Finger und nahm ihn vierzig Jahre lang nicht mehr ab. Mit dem Älterwerden steckte ich ihn von einem Finger auf den nächsten, bis zuletzt auf den kleinen. Außerdem trug meine arme Mutter über ihrem Ehering noch den unseres toten Vaters, und auch diese beiden Ringe zog ihr die Tante von den Fingern, aber die, so sagte sie, würde sie uns erst geben, wenn wir älter wären. Die Ringe ließen sich mühelos abziehen, weil die Finger unserer Mutter inzwischen stöckchendürr waren.
    Darauf folgten schlimme Tage für uns zwei Brüder. So ganz ohne Vater und Mutter waren wir nur mehr traurig und niedergeschlagen, und Bastianin musste ständig weinen. Zum Glück war die Tante da, und auch wenn sie immer wieder trank, für uns war sie ein Engel.
    In der Nähe unseres Hauses, am oberen Ende der Cuagasteigung, lebte ein sehr tüchtiger Schmied, dem man nachsagte, er könne den Fliegen Flügel schmieden, so geschickt sei er. Er hieß Filippin Giordano, genannt Mano del Conte, er war es, der das große schmiedeeiserne Eingangstor zum Friedhof von Erto, wo unsere Eltern begraben lagen, gefertigt hatte. Eines Tages kam dieser Schmied zu uns und sagte der trunksüchtigen Tante, er wolle Bastianin bei sich aufnehmen und ihm sein Handwerk beibringen. Für ein halbes Jahr ging Bastianin noch zur Schule, dann begann er bei Mano del Conte die Gebläsekurbel des Schmiedeofens zu bedienen. Ich half der alten Tante beim Versorgen
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