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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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Klappmesser, die Haut abzuziehen. Er war einfach nicht fähig dazu. So kümmerten wir uns darum, ich zusammen mit meinem Bruder und meiner Mutter, die sich sehr gut darauf verstand und dabei keineswegs schniefte wie ein Kälbchen. Sie tötete die Frösche, als wäre nichts dabei.
    Nach dem Tod unseres Vaters aß unsere Mutter immer weniger, bis sie schließlich gar nichts mehr zu sich nahm. Dabei sagten wir ihr ständig, du musst essen, Mama, sonst stirbst du, aber es war nichts zu machen, sie aß einfach nicht. Und während sie weinte und mit jedem Tag mehr abmagerte, sang der vom Col delle Cavalle: »Ach, wie gut, dass niemand weiß …« Und dann kam er zu uns ins Haus, um unsere Mutter zu fragen, ob er ihr zur Hand gehen könne. Ihm gefiel unsere Mutter, und er wollte sie für sich gewinnen, aber sie wollte weder von ihm noch von sonst jemandem etwas wissen. Ihr Mann war allein Zolian, nur er und niemand anderes.
    Einmal legte der von Cavalle mir seine Hand auf die Schulter und sagte, ich müsse jetzt tapfer sein, jetzt, nach dem Tod unseres Vaters, sei ich das Familienoberhaupt. Ich antwortete ihm, dass ich nicht verstehen würde, wie man so weit kommen könne und einen Menschen wie ein Karnickel mit Schlägen auf den Kopf abschlachten. Und dann verfluchte ich den aus Pineda, der in Udine hinter Schloss und Riegel saß. Damals wusste ich noch nicht, dass es manchmal leichter ist, einen Mann zu erschlagen, als einen Frosch zu enthäuten, und konnte mir auch nicht im Entferntesten vorstellen, dass es der Mörder unseres Vaters war, der mir da seine Hand auf die Schulter legte mit den Worten, ich solle tapfer sein. Hätte ich das gewusst, ich schwöre, ich hätte ihm im selben Moment, aber auch noch Jahre später, ein Messer in den Bauch gerammt für seine Tat und für den Schmerz, den er unserer Mutter zugefügt hat, und dafür, dass er unsere Familie ins Verderben stürzte.
    Am meisten tat mir mein kleiner Bruder leid, der ganz verloren war ohne unseren Vater. Ich versuchte ihn abzulenken und nahm ihn im Sommer mit auf die Hochweiden, im Winter ließ ich ihn im Stall arbeiten oder mit dem Schlitten Mist auf die verschneiten Wiesen transportieren. Er kam gern mit, sagte niemals Nein, aber schwieg immer, und abends vor dem Einschlafen hörte ich ihn still in sich hinein weinen. Der Ärmste, er litt sehr unter der Abwesenheit des Vaters und sprach zu niemandem davon, nicht einmal zu unserer Mutter, solange sie noch lebte. Auch ich musste manchmal versteckt weinen, wenn ich ihn so sah, doch dann besann ich mich schnell und war still, schließlich konnten wir ja nicht alle drei ständig weinen.
    Als eines Abends wieder einmal der Sänger von »Ach, wie gut, dass niemand weiß« zu uns ins Haus kam und sah, wie schlecht es unserer Mutter ging, sagte er ihr, wenn sie wolle, würde er gern bei uns bleiben und uns bei den schweren Arbeiten helfen, auch für immer. Aber unsere Mutter schlug sein Angebot aus, und um ihn loszuwerden, sagte sie ihm, sie würde ihn schon rufen, falls sie ihn bräuchte. Aber sie musste nicht mehr nach ihm rufen, weil sie schon eine Woche später starb, am 26. April 1895, nicht einmal ein Jahr nachdem unser Vater umgebracht worden war. Es geschah gegen Abend, wir hatten gerade den Rosenkranz gebetet, zusammen mit einigen alten Frauen, die vom Viertel San Rocco zu uns nach Cuaga herabgekommen waren. Die Alten zündeten eine Kerze an, stellten sie vor das Kreuz, und die Älteste von ihnen begann mit einem weiteren Rosenkranzgebet. Unsere Mutter antwortete nur schwach auf die Ave-Maria, sie war so weiß, Schnee ist schwarz im Vergleich dazu, und mehrmals ging sie hinaus zum Stall, aus dem sie dann gleich wieder zurückkam, jedes Mal noch weißer als zuvor. Wenn sie dann vor der Kerze vorbeiging, konnte man zwischen den herausstehenden Rippen ihr Herz schlagen sehen, so mager und zart war sie. Während die Ave-Maria gebetet wurden, musste sie dann plötzlich stark husten, zog ein Schnupftuch aus der Tasche, und ich bemerkte, dass es voller Blut war. Deshalb ging sie also in den Stall, dachte ich, es sollte niemand sehen, dass sie Blut spuckte. Aber dieses Mal schaffte sie es nicht mehr rechtzeitig bis zum Stall, denn plötzlich brach ein ganzer Blutschwall aus ihr heraus und ergoss sich über den Holzboden. Unsere Mutter warf uns zwei Brüdern noch einen Blick zu, dann knickte sie ein und stürzte nach hinten, während die Alten weiter ihre Litaneien murmelten. Aber als sie unsere Mutter am Boden
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