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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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selbst machen und half ihm auch nicht beim Ausschmieden der Blätter, denn, wie er sagte, »wenn man jemandem die Arbeit abnimmt, lernt er nie, sie selber zu machen. So aber wird Bastianin im kommenden Jahr selbst merken, dass die Blätter nicht schön sind, und die nächsten besser schmieden. Aber es braucht wenigstens ein Jahr, bis einer merkt, dass das, was er ein Jahr zuvor gemacht hat, nicht gut genug ist. Das ist meine Erfahrung.« Das sagte Mano del Conte, aber ich glaube, dass man auch schon früher sehen kann, ob man etwas falsch gemacht hat, und dass andererseits vielen nicht einmal nach hundert Jahren ein Licht aufgeht, weil sie meinen, sie wären Gott und würden immer alles richtig machen.
    Auch die zweite Arbeit meines Bruders war ein Kreuz. Er schmiedete es gleich im Anschluss an jenes für meine Mutter, diesmal aber ohne Blätter. Es war für die arme Filomena bestimmt, die zehn Jahre zuvor, im neunten Monat schwanger, von ihrem Geliebten in die Schlucht von Val Zemola gestoßen worden war, weil er eine andere hatte. Dabei hätte er doch Filomena am Leben lassen können, auch wenn er eine andere hatte. Er brauchte ihr nur Ade zu sagen, ich will dich nicht mehr, dann wäre sie schon allein zurechtgekommen. Aber er tötete sie, weil sie ihm im Umgang mit seiner anderen zu hinderlich wurde. Und so geschah es, dass zehn Jahre nach ihrem Tod ein altes Mütterchen zu Mano del Conte kam, um von ihm ein Kreuz für Filomena schmieden zu lassen. Sie war am 8. November 1886 umgebracht worden, und ich erinnere mich noch gut daran, wie alle im Dorf darüber redeten, auch wenn ich erst sieben Jahre alt war. Aber der Schurke konnte sich nicht lange freuen, denn bald landete er im Gefängnis, wo er auch starb. Mein Bruder Bastianin schrieb den Namen Filomena und ihren Familiennamen auf das Kreuz, das wieder aus zwei Eisenstäben bestand, die von einem Niet zusammengehalten wurden. Mit einer Punze schlug er den Namen ins Metall. Aber diesmal fügte er keine Blätter hinzu, weil, wie er sagte, diese nur für unsere Mutter und niemanden sonst bestimmt waren. Bastianin fertigte noch viele Kreuze für Verstorbene, auch für unseren Vater, aber keines mehr mit Blättern. Ich kann mich noch an eines für einen gewissen Corona Domenico Menin erinnern, der 1917 im Krieg auf dem Pal Piccolo gefallen ist. Es war wieder ein Kreuz aus Eisenblech, verziert mit einem Dornenring, so als wäre es der Dornenkranz Jesu. Denn bevor er starb, hatte er sicher schwer gelitten, sagte Bastianin. Als er dieses Kreuz schmiedete, war er schon erwachsen und sehr erfahren, denn 1917 war Bastianin dreißig Jahre alt. Nach dem Tod unserer Mutter nahm ich den Platz unseres Vaters ein, das heißt, ich kümmerte mich um die Holzarbeiten, das Heu, das Pflügen der Felder, das Setzen der Kartoffeln und Bohnen. Ich besaß zwei große Gemüsegärten auf dem Col delle Acacie, die an das Grundstück von Felice Corona Menin grenzten, der im selben Jahr wie ich geboren und mir ein guter Freund war. Er war der Bruder von dem, der auf dem Pal Piccolo umkam. Aber damit man das besser versteht, muss ich mein ganzes Leben von Anfang an erzählen.

Im Alter von siebzehn Jahren passierte mir etwas, das schön und schlimm zugleich war. Ich kam aus dem Tal von Zemola, wo ich meine Ziegen zum Weiden auf den frisch gemähten Wiesen der Palazza zurückgelassen hatte. Wenn das hoch stehende Gras der Heuwiesen geschnitten war, konnte man die Tiere hinauflassen, um sie die restlichen Grasbüschel fressen zu lassen, die von der Sensenschneide nicht erfasst worden waren. Die Grundbesitzer hatten nichts dagegen einzuwenden, wenn man die Ziegen nach dem ersten Schnitt auf den Wiesen nachweiden ließ, jedoch nur für zwei Wochen, denn danach wuchs bereits der zweite Schnitt, das Grummet.
    Es war also Ende Juli, und ich kam, wie gesagt, aus dem Zemolatal zurück. Es war gegen Abend, aber noch nicht dunkel. Auf dem Weg zum Dorf kam ich am Stall eines Alten vorbei, der fünf Kühe hatte und deshalb als einer der reichsten Grundbesitzer galt. Da ich sehr durstig war, ging ich zum Brunnen, von dem das Wasser in einen Holzbottich floss. Aber kaum dass ich im Stallhof war, wurde ich Zeuge einer sonderlichen Szene, die mich ganz verstörte: Eine Frau von circa fünfunddreißig Jahren, die Tochter des Alten, schlug mit einer Schaufel auf Teufel komm raus auf einen Hund und eine kleine Hündin ein, die fest zusammensteckten, nachdem der Hund die Hündin bestiegen hatte. Ich fragte sie,
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