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Die Diktatorin der Welt

Die Diktatorin der Welt

Titel: Die Diktatorin der Welt
Autoren: Kurt Mahr
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    »Zeit«, schrieb der jemenitische Philosoph Manusar Mahadi im November 1966, »ist etwas, das es nicht gibt. Zeit ist etwas, das der Mensch erfunden hat, um sich in seiner Umwelt leichter zurechtzufinden, eine Krücke, die der menschliche Geist benötigte, um gehen zu können.«
    Manusar Mahadi hatte doppeltes Pech. Erstens war er nur ein Philosoph und damit der Notwendigkeit enthoben, Beweise für seine Theorie zu erbringen, und zweitens kam er im Januar 1967 bei Kämpfen zwischen den Sozialisten und den Anhängern des Imam ums Leben, so daß er keine Gelegenheit fand, seine Hypothese weiter auszuarbeiten und sie der Menschheit zu unterbreiten.
    Als sich knapp eintausend Jahre später herausstellte, daß er recht gehabt hatte, war niemand mehr da, der sich an Manusar Mahadi erinnerte.
     
    *
     
    Ken Lohmer spürte festen Boden unter den Füßen und öffnete die Augen. Er stand auf einer spiegelglatten, schwarzen Felsfläche, die sich bis zum Horizont erstreckte, nirgends auch nur von der leisesten Unregelmäßigkeit unterbrochen. Über ihm wölbte sich ein schwarzer Himmel, an dem ein einzelner Stern leuchtete. Es war totenstill. Die Luft, die Ken Lohmer atmete, hatte einen Beigeschmack nach rostigem Eisen und zermahlenem Gestein. Es war kühl. Er bildete sich etwas darauf ein, daß er noch rechtzeitig an einen möglichen Temperaturunterschied gedacht und sich warm angezogen hatte.
    Die finstere Welt, auf der er gelandet war, erschreckte ihn. Es kam ihm zu Bewußtsein, daß seine Theorie noch eine ganze Reihe von Lücken hatte, die gestopft werden mußten, bevor mit ihr mit einem halbwegs vernünftigen Maß an Risiko experimentiert werden konnte. Er hatte voreilig gehandelt. Er hätte warten sollen. Fürs erste schien er in Sicherheit zu sein; aber er würde sein Leben lang den Schock nicht vergessen, mit dem der Anblick der schwarzen Welt ihn erfüllte.
    Er wandte sich um, langsam und voller Furcht, daß sich ihm auf der anderen Seite ein noch unwirklicherer Ausblick eröffnen könnte – und hielt mitten in der Bewegung inne, als er den Berg sah.
    Berg, schoß es ihm durch den Sinn, war nicht das richtige Wort für das vollkommen regelmäßige, kegelförmige Gebilde, das in einer Entfernung von mehreren Kilometern aus dem spiegelblanken Felsen wuchs und bis zu einer Höhe von etwa fünfhundert Metern anstieg. Es schien aus flüssigem Gestein in einer Form gegossen und von irgend jemand dort deponiert worden zu sein. Es besaß leidlich steile Flanken, die so aussahen, als würden sie einer Besteigung keinen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzen. Das war von Bedeutung.
    Denn auf dem Gipfel des merkwürdigen Berges stand ein Haus, aus dessen Fenstern heller Lichtschein drang.
     
    *
     
    Beunruhigende Gedanken bewegten Ken Lohmer, während er auf den Berg zumarschierte. Als er sein Experiment begann, hatte er erwartet, auf einer fremdartigen Welt zu landen, aber nicht auf einer, die allen Regeln der Wahrscheinlichkeit so völlig widersprach wie diese. Er hatte damit gerechnet, daß an seine Vorstellungskraft harte Ansprüche gestellt werden würden, aber nicht, daß er in eine Umgebung geriete, die an sich leicht zu begreifen war, nur daß sie eben völlig unmöglich wirkte.
    Die Felsebene, über die er sich bewegte, und der Berg, der sein Ziel war, schienen künstlich erschaffen. Es war jedoch undenkbar, daß jemand sich die Mühe gemacht haben sollte, eine so völlig unnütze Landschaft zu bauen – es sei denn, er wäre nicht ganz richtig im Kopf. Unglaublich, ging Ken Lohmer plötzlich auf, war auch die Tatsache, daß er die Felsebene bis zum Horizont überblicken und den Berg in allen Einzelheiten erkennen konnte, obwohl ringsum alles schwarz war und der einzelne Stern am Himmel nicht genügend Helligkeit verbreitete, um auch nur einen Fußbreit des glatten Felsens hinreichend zu erleuchten. Ein eigenartiges Licht, das von nirgendwoher kam, erfüllte die Luft und spiegelte sich in der makellos glatten Oberfläche des schwarzen Felsens. Ken, plötzlich neugierig, stellte fest, daß der Berg, soweit er sehen konnte, von allen Seiten gleichmäßig beleuchtet war und in keiner Richtung Schatten warf.
    Am unglaublichsten jedoch, fand er, war die Existenz des Hauses auf dem Gipfel des Berges. Eine solche Welt konnte, wenn es sie überhaupt gab, kein Leben hervorbringen. Sie war tot, ihre Substanz, der die Natur eine so erschreckend gleichmäßige Form gegeben hatte, anorganisch. Nichts lebte auf
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