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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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dem Tod kehrt man dahin zurück, wo man gar nicht existiert, wie zu der Zeit, als man noch ungeboren war. Mit dem Tod kehrt man vor die Geburt zurück. Deshalb überkommt einen manchmal der Wunsch, noch vor der Zeit zu sterben: eben um zurückzukehren. Das Leben ist wie ein Auf-die-Welt-Kommen, man wirft einen kurzen Blick auf sie, begreift, dass es einem nicht gefällt, und kehrt wieder dorthin zurück, wo man herkam. Das ist das Leben, ein Besuch auf der Erde und die neuerliche Flucht fort von ihr, um nicht länger ihren Gestank riechen zu müssen, so wie man als Kind flüchtete, wenn die Latrine gereinigt wurde.
    Gäbe Gott mir die Kraft, würde ich zu den Carabinieri gehen und mich selbst anzeigen und vorher noch beim Priester beichten, aber diese Kraft fehlt mir. Und dann würde es auch nichts ändern, ich käme nach Udine ins Gefängnis zu meinem Bruder Bastianin, was mir auch recht wäre, aber die Gewissensbisse und die Angst würden bleiben, vor ihnen gibt es kein Fliehen.
    Jedenfalls gelingt mir nicht die Flucht vor ihnen, und so gibt es, wie gesagt, nur ein Mittel, um dieser ganzen Qual zu entkommen: zurück mit dem Tod, dreimal gesegneter Tod, der einen bis vor die Geburt zurückkehren lässt.
    Kaum war sie weg, ging auch ich hinaus ins Freie, wo mir von ferne schon der Tag entgegenstrahlte, vielleicht der letzte. Es war der 30. Juli, und überall sandten die Felder schon ihre Düfte aus, auch wenn es erst früh am Morgen war. Es war die Kraft des Herrn, die den Früchten Leben einhauchte, dem ganzen Grün, dem Weizen, den Blumen und den Trauben, wie allem, was unter seiner starken und guten Hand heranreift. Aber davon wollte ich nichts mehr wissen, da mein Weg jetzt ein anderer war, doch die Düfte der Landschaft roch ich trotzdem, auch wenn ich dem Tod entgegenging, immer schon gefiel mir der Duft von allem, was reif wird, denn es ist der Duft Gottes, und der Duft Gottes ist noch süßer, wenn man dem Tod entgegengeht. Von der Geburt an führt einen der Weg mit jedem Tag näher an den Tod, da sollte man sich immer den Duft Gottes unter die Nase halten.
    Bevor ich nach draußen ging, nahm ich einen Strick von der Wand, mit der die Kälber zur Tränke gezogen werden, und wickelte ihn mir wie einen Gürtel mehrmals um die Taille. Dann nahm ich den nächsten Postbus nach Camino al Tagliamento und ging von Neuem in die Osteria, um noch einmal diesen Stock, meinen Tod, an der Wand zu sehen. Ich bestellte einen halben Liter vom Weißen. Der Wirt hatte mich gleich erkannt, brachte mir den Wein, und als er sah, dass ich wieder den Stock an der Wand anstarrte, sagte er, wenn mir der Stock wirklich so sehr gefiele, könne ich ihn einfach mitnehmen. Nein, erwiderte ich, um Himmels willen, ich wüsste ja nicht, was ich mit diesem Holzknüppel anfangen sollte, ich wollte nur genau sehen, wie er gemacht war.
    Ich trank den halben Liter, dann noch einen und fühlte mich schließlich ganz schläfrig, und während ich so vor mich hin dämmerte, wurde der Türvorhang auf einmal zur Seite geschoben, und zufällig sah ich im Spiegel über der Theke, wie jemand eintrat. Um ein Haar wäre ich vor Schrecken krepiert, denn wer da eintrat, war Raggio. Mir fehlte die Kraft, mich umzudrehen, ich zitterte und schwitzte kalten Angstschweiß, wie das andere Mal, doch dann dache ich, dass es unmöglich Raggio sein konnte, nahm all meinen Mut zusammen und drehte mich zur Theke, an die sich der gerade Eingetretene gelehnt hatte. Im selben Moment verschwand die Vision, denn was bei dem neuen Gast an Raggio erinnerte, waren bloß der ähnliche Hut und ein wenig auch der Körperbau. Aber was ich am Anfang im Spiegel gesehen hatte, war ganz sicher Raggio, da täuschte ich mich nicht. Er war gekommen, um mich zu holen.
    Ich zahlte den Wein und fuhr mit dem Postbus wieder zurück nach San Michele, und mein Herz schlug seine letzten Schläge.
    Bei der Fahrt dämmerte ich ein wenig ein und träumte während des kurzen Schlafs einen weiteren Schreckenstraum. Ich sah die Hexe Melissa, wie sie in einem Zaun, in Form eines riesigen umgestürzten Tragekorbs, all jene eingesperrt hielt, die sie umgebracht hatten. Da waren sie alle: Pilo dal Crist, Jacon de Arcangelo, Toni della Val Martin, Piare Stort, Raggio, Zulìn Cesto, Carle dal Bus dal Diaul und Jacon Piciol. Nur ich stand außerhalb des Zauns, doch als ich weglaufen wollte, hatte sie schon mit einer Handbewegung meine Beine zu Holzbeinen verwandelt, und ich konnte mich nicht mehr bewegen, als
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