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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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hätte ich Wurzeln geschlagen. Darauf kam sie mit einer Feuergabel auf mich zu und verbrannte mir den Rücken, während sie mich zum großen Korb zurückstieß. Jedes Mal, wenn ich dabei versuchte, nach rechts oder links auszubrechen, machte sie mir wieder Holzbeine, und schon war ich wie angewurzelt. Nur wenn ich mich auf den Zaun zu bewegte, konnte ich normal gehen. Sobald ich anhielt, stieß sie mir die Feuergabel in den Rücken, und ich musste weiter Richtung Zaun gehen. Als schließlich auch ich bei allen anderen im Zaun war, zündete sie ihn an, und wir verbrannten unter Schmerzensgeschrei bei lebendigem Leib, und so wachte ich schreiend im Bus auf, mehr tot als lebendig und schweißgebadet, aber nicht wegen der Hitze.
    Der Fahrer fragte mich, was los sei, und ich antwortete nur: ein böser Traum.

Jetzt sitze ich hier im Stall und habe fast alles erzählt, was mir im Leben zugestoßen ist. Im Stallfenster liegt eine Gasschutzmaske nebst Eisenhülle mit Deckel. Ich glaube, sie liegt seit dem letzten Krieg dort. Ich habe die Maske aus ihrem dosenförmigen Blechbehälter herausgezogen, denn ich möchte mein Heft in diesen Behälter stecken und es so verstecken, dass, findet es jemand, dann die ganze Wahrheit ans Licht kommt, und wenn es niemand findet, wird man eben nie etwas darüber erfahren, und das ist vielleicht auch besser so. Aber falls es nach meinem Tod gefunden wird, soll es dem Priester meines Dorfes, Don Chino Planco, übergeben werden, der es dann seinerseits, nachdem er es gelesen hat, an meinen Bruder Bastianin weitergibt, wenn er noch lebt und aus dem Gefängnis entlassen wurde. Ich könnte es auch sofort an meinen Dorfpriester schicken, aber das wäre zu früh, und da ich noch nicht genau weiß, was ich tun soll, verstecke ich es besser irgendwo, und dann soll es eben später gefunden werden, wenn sich alles beruhigt hat, und die Erinnerung an mich nur mehr ein bloßer Gedanke sein wird, so weit entlegen wie vertrocknetes Gras.
    Ich weiß auch schon, wo ich das Heft verstecken kann: unter dem Futtertrog für die Kühe, zwischen der Mauer und den Holzbrettern. Dort wird man es sicher früher oder später finden, denn die Holzbretter eines Futtertrogs halten mehr oder weniger zehn Jahre, danach muss man sie auswechseln. Und in zehn Jahren wird man sich dann weniger an mich erinnern als an diese Bretter, und so ist es auch richtig.
    Jetzt reicht es. Zeit, endlich Schluss zu machen. Aber wenn sie mich finden, will ich nicht hier begraben werden, sondern in meinem Dorf neben meiner Mutter und meinem Vater und den trunksüchtigen alten Tanten und allen meinen toten Dörflern. Aber das werde ich noch auf einen Zettel schreiben und ihn am Fenster hinterlegen. Und ich werde auch schreiben, falls es unmöglich ist, mich nach Erto zu transportieren, können sie mich auch hier beerdigen, so bin ich ihr und meinem Sohn nahe, der gesund und munter sein wird, oder meiner Tochter, wenn es ein Mädchen wird. Und im Herbst sollen sie mir ein Amen singen.
    Dann riss ich ein Blatt aus dem Heft und schrieb meine Beerdigungswünsche auf. Ich werde es später ans Fenster legen, wenn ich hinausgehe, um das zu tun, was ich tun muss, wenn ich den Mut dazu finde. Wenn nicht, werde ich für den Rest meines Lebens wie der wandernde Jude ziellos durch die Welt irren, aber ich glaube nicht, dass es so sein wird, weil ich gewiss genug Mut haben werde.
    Inzwischen bitte ich Gott um Vergebung für alle meine Taten und lege mich in seine barmherzigen Hände und hoffe, er möge verstehen, dass alles nicht von uns gewollt war, sondern vom Schicksal, bestimmt durch einen Fluch, der uns jäh für unsere Sünde traf und den einzig der Tod aller Schuldigen aufheben kann.
    Dabei kommt mir jetzt auch wieder der Satz der trunksüchtigen alten Tante in den Sinn, den sie immer wiederholte, wenn sie eine Rausch hatte: »Die Welt, die ist ein Jammertal, sie kann mich kreuzweis, kann mich mal.« Ich könnte jetzt das Gleiche sagen, denn was ich getan habe, hat mir alles Schöne auf dieser Welt in Mist und Dreck verwandelt; also, sie kann uns kreuzweis, wie die Alte sagte.

Jetzt ist es drei Uhr nachmittags.
    Mittags kamen die Söhne des Bauern zu mir und wollten mich zum gemeinsamen Essen einladen. Ich antwortete, ich hätte heute keinen Hunger und würde nichts essen. Also, so Gott will und ich niemandem mehr begegne, wenn ich hinaus aufs Land gehe, und ich hoffe, ich sehe wirklich keine Seele mehr, dann werden die zwei Kinder die letzten
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