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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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es fehlende Disziplin, dass sich Körperteile nach und nach verformen?
    Schwitter kam zum Helvetia, was ihm vorher gar nicht in den Sinn gekommen war, aber er hatte sich anders entschieden, wollte sich nicht davon abbringen lassen, kaum um die Ecke gebogen, wurde er unsicher, blieb stehen, bereute den Entschluss, zumal sie wirklich guten Schokoladenkuchen dort haben, also wieder zurück, er trat ein und steuerte zu jenem Platz beim hinteren Fenster, den er wählt, wenn er gelegentlich hierherkommt, stellte fest, dass dort schon jemand saß, überhaupt zu viel Betrieb, rasch wieder auf die Straße, das alte Ziel angepeilt, es gab ja wirklich nichts auszusetzen am Kaffee im La Perla, endlich war er da, spähte vorsichtshalber durch die Scheiben, wollte sicher sein, dass ihn kein Wohnungsnachbar in ein Gespräch verwickeln konnte, sah keine bekannten Gesichter, das Café war leer, geschlossen, las er auf einem Zettel, Todesfall in der Familie.
    Vater würde ihn verstehen, der hatte sich, anders als Mutter, nie von schlechtem Wetter abhalten lassen, selbst bei Landregen drängte er darauf, in den Jura zu fahren, wo sie ein Häuschen gekauft hatten vor Jahren. Blieben sie, wenn Mutter eine Migräne vorschützte, doch einmal zu Hause, schlief Vater vor dem Fernseher ein oder schrie Mutter an, er hörte die grellen Stimmen von seinem Zimmer aus, die Tür einen Spalt weit geöffnet. Zusammen hätten sie, am Wegrand sitzend, das subtile Schauspiel erleben können. Aber was heißt Schauspiel, eine Aufführung erst einmal für die Ohren, die Augen werden später bedient, wenn ein dünner Film das Wiesengrün überzieht, wenn das Gras schimmert, die Baumwipfel leuchten vor dem Wolkengrau. Jetzt sind die Ohren an der Reihe, die registrieren am zuverlässigsten, wenn Niederschlag einsetzt, sie nehmen die Schwingungen auf, die zaghafte Steigerung, wenn das Wasser näherkommt, wenn es auf einen Stein aufschlägt, in einer Pfütze aufschäumt oder aufgefangen wird von einem Ast und mit diesem sanft zu wippen beginnt.
    Ein Klavier, das ist es, was er bräuchte. Es müsste kein Flügel sein, ein einfaches Instrument täte es schon, bestimmt steht hier irgendwo eines herum. Das wäre die richtige Behandlung für ihn, der Professor ließe sich überzeugen, nochmals kurz ins Wetter eintauchen, nicht die geringsten Gesundheitsrisiken, auf keinen Fall die Bronchien verkühlen, reines Sublimieren, Sie verstehen doch, Herr Professor, die Phantasie anregen und dabei alles gut durchlüften, an hell schimmernde Sauerstoffbläschen denken. Eine der Pflegerinnen könnte ihn zum Klavier führen, den Gruber würde er gleich mitnehmen, er hängt bestimmt noch irgendwo am Tropf, also zuerst den Gruber holen und dann in den Übungsraum, macht doch mehr Spaß zu zweit so etwas. Dann: Deckel aufklappen, den Stuhl auf die richtige Höhe schrauben, Staub von den Tasten wischen, eine nach der andern niederdrücken, spüren, wie der Hammer an die Saite geschleudert wird, Ton für Ton sich einprägen. Das ganze Zimmer wird zum Resonanzraum, auch auf Gruber gehen sie über, die Schwingungen, mit seinem dünnen Körper vermag er dem Klang helle Farben beizumischen. Beim vierfach gestrichenen c angekommen, folgt das Spiel mit vier Händen. Zuerst etwas Fingergymnastik, Cerny vielleicht, eine vierhändige Etüde, Geläufigkeit schulen, Finger aufwärmen, Sehnen beweglich machen, dann ins Thema einstimmen, Wind und Wetter heraufbeschwören, am besten mit Satie, der hat für solche Neigungen komponiert, Strickjacke nicht vergessen, wird einem rasch kalt bei dieser Musik, eigentlich für zwei Hände geschrieben, aber das macht nichts, Gruber die rechte Hand, er die linke, entscheidend ist die Stimmung, verlangt viel Ausdruck, dieser Satie, sie müssen es fließen lassen, die Anweisungen des Komponisten weisen die Richtung, mit
blanc
und
toujours
sind Phrasen überschrieben, gläserner Klang ist hier verlangt, ewig während, etwas später
sans bruit
und
très loin
, hier müssen sie versuchen, die Töne wie Eis schmelzen zu lassen, bis sich die Schallwellen in Grubers Haaren verfangen, um dann zu verebben.
    Nun aber höchste Zeit, das Notenspiel zu beenden. Sonst kommt jemand und holt den Gruber, ohne dass sie zum Kern der Therapie vorgestoßen wären. Gruber bleibt bei den oberen Oktaven, Schwitter im Bass. Sie lassen Wolken aufziehen, kurz darauf setzt Regen ein, zufällig schlagen die Tropfen auf, ein ernstes
portato
. Schnee kommt hinzu, sie ertasten die
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