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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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nahe gegangen, der hätte sich mitreißen lassen, der hätte vielleicht sogar den Mund geöffnet und seine Zähne gezeigt, wenn er gehört hätte, wie da einer allein im Zugabteil sitzt und sich durch den Aprilmorgen fahren lässt. Schwitter presst den Rücken ans Polster, hält die Arme verschränkt, den ausgebleichten Rucksack zwischen die Beine geklemmt. Kurz nach sechs zeigt seine Uhr, früh genug, um keine fremden Blicke ertragen zu müssen. Umsteigen in Wädenswil, schnell durch die Unterführung, der andere Zug wartet, der Zugführer winkt zur Abfahrt, und schon ziehen Reihenhäuser vorbei, bald Wiesen, kahle Bäume. In Einsiedeln angekommen, schreitet er zügig durchs Dorf. Kinder fallen ihm auf, sie stehen vor einem Schaufenster und schneiden Grimassen, wenden ihm ihre farbigen Schultaschen zu. Als er zur Klosterkirche kommt, bleibt er stehen und neigt den Kopf nach hinten, um zu den Turmspitzen aufblicken zu können. Da schieben sich ein paar ältere Frauen über die Kopfsteine des Klosterplatzes. Kirchgängerinnen, vermutet er, sie haben dem Chorgebet der Benediktiner beigewohnt und noch die Laudes in den Ohren. Manchmal folgt er einem solchen Grüppchen, in der Regel muss er nicht lange warten, bis die Alten ein Café betreten, dann setzt er sich an einen Nebentisch und hört zu, wie sie über ihre Sorgen reden. Gruber wäre bestimmt schon eingeschlafen. Dabei kommt das Spannende doch erst.
    Ja, ich bin im Spital, aber keine Sorge, nichts Schlimmes, weder Verkehrsunfall noch Herzinfarkt, und auch kein Darmverschluss, bloß eine Infektion, erhöhte Temperatur, von Fieber zu reden, wäre übertrieben, ein, zwei Tage Bettruhe, und ich bin wieder im Büro. Er muss seinen Chef anrufen, bevor auffällt, dass sein Platz leer bleibt, und alles erzählen. Sei proaktiv, verlangt er, warte nicht, sagt er, bis die Kunden anrufen, du musst, ermahnt er, immer in der Offensive sein. Die Stimme braucht Schwitter nicht zu verstellen, für eine Grippe klingt sie rauh genug. Sei konzis, unterbricht der Chef, wenn Schwitter einmal etwas ausholt, keine filigranen Ausschmückungen, nur das Essentielle. Diesmal weiß er sich kurz zu fassen, wer, was, wann, wo, wie viele Verletzte, das Alarmierungsschema kennt er noch vom Nothelferkurs. Wer: Matthias Schwitter. Was: Auf harmloser Wanderung in Schnee und Regen geraten und, in der Folge, in einen Zustand fortgeschrittener Erschöpfung. Wann: So genau lässt sich das nicht sagen, aber lange kann es noch nicht her sein. Wo: Das wüsste er selber gerne, soll im Stock gewesen sein, ein Waldstück, irgendwo zwischen Einsiedeln und der Ibergeregg. Wie viele Verletzte: eine Person, weit und breit kein anderer Mensch, doch was heißt schon verletzt, den Fuß verstaucht und etwas Fieber. Die müssen ihn bald gehen lassen.
    Schwitter ist nicht krank. Sein Herz schlägt regelmäßig, die Atmung funktioniert, beweglich ist er auch, vermag die Arme wie Vogelschwingen auszubreiten, mit den Händen den Bettrahmen zu greifen und noch darüber hinaus. Wie er sich ausstreckt, schlägt er mit dem rechten Handrücken am Nachttisch an, die Teekanne gerät ins Rutschen, er kriegt sie gerade noch zu fassen, die Tasse aber fällt zu Boden und zerspringt. Bis ins Stationszimmer muss der Krach zu hören sein, gleich wird eine Pflegerin ins Zimmer stürzen. Schwitter übt bereits ein paar beschwichtigende Worte, alles meine Schuld, hört er sich sagen, ein bisschen Bettgymnastik betrieben im Übermut, die Zirkulation gefördert. Aber niemand zeigt sich, also macht er selber sauber. Will er die Chance auf rasche Heilung wahren, darf er die Spitalroutine nicht stören. Wenn er sich aus dem Bett lehnt, kann er die Scherben greifen, vorsichtig, Stück für Stück legt er sie in die Schublade des Tisches. Jetzt muss er nur noch den verschütteten Tee aufwischen, nicht dass noch jemand auf die Idee kommt, ihm einen Katheter zu stecken. Ein Frottiertuch im Badezimmer zu holen, kann er seinem Fuß nicht zumuten, er behilft sich mit dem Kissenanzug, öffnet ungeduldig die Knöpfe, nimmt den Stoff und putzt die Lache damit weg.
    Morgen um acht Uhr meldet sich Imhof auf der Bank, das Sitzungszimmer im zweiten Stock ist reserviert, nur kurz lüften müsste man vorher. Ein begeisterungsfähiger Mann, dieser Imhof, fünfunddreißig, seit drei Jahren betreut er ihn, große Risikotoleranz bei kleiner Risikofähigkeit, leider, Verkäufer in einem Warenhaus, hofft auf Erbschaft, Einzelkind, ideale Voraussetzungen, aber die
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