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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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solchem Wetter vergebens, ein prächtiger Wintertag, als er aus der Narkose erwachte, schien noch immer die Sonne.
    Damals teilte er das Zimmer mit diesem Schindler, noch keine fünfzig war er, sah aber aus wie siebzig. Lungenemphysem, hatte er geflüstert und ihn angeblickt, als wäre es eine Auszeichnung, verliehen vom Arzt, der sich jeden Morgen an den Fuß des Bettes stellte. Wissen Sie, war dem Mann nach einer schweren Nacht erläutert worden, bei Ihnen sind die Bronchien irreversibel verengt, da dürfen Sie von den Alveolen keine Wunder mehr erwarten. Ein Plastikschlauch führte aus der Wand ans Bett, der Sauerstoff, der lautlos durch die Leitung strömte, zögerte das Ersticken ein paar Wochen hinaus.
    Ohne Gruber ist es ganz ruhig, nur den eigenen Atem kann er hören. Er wundert sich, dass er noch immer alleine ist. So wie er versichert ist, hat er kein Anrecht auf ein Einzelzimmer. Andere Menschen werden beim Fliegen bevorteilt, seine Bürokollegen erzählen gerne davon, zeigen allen auf der Bank ihren Stolz, wenn sie ihre Beine in der Business Class ausstrecken durften, als wäre das Upgrade ihr Verdienst gewesen. Sie essen und trinken sich, kaum ist die Maschine in der Luft, durch die ganze Menükarte. Schwitter muss sich die zahlenden Passagiere vorstellen, wie sie alles angewidert beobachten, aber davon berichten seine Kollegen nichts, das fällt denen nicht einmal auf. Ihm ist es noch nie passiert, und er ist froh darüber, denn er würde kaum etwas essen und sich auch sonst anstrengen, um nicht erkannt zu werden als einer, der die Klasse wechseln durfte.
    Schwitter regt sich nicht, er will die Stille bewahren, unterdrückt den Impuls, sich auf den Rücken zu drehen, die Beine anzuwinkeln. Er liegt auf der Seite und blickt zum Fenster, sieht, wie sich der Vorhang im Rhythmus seiner Lunge bewegt. Könnte er den Atem anhalten, den Luftstrom abdrehen, wäre die Regungslosigkeit vollkommen. Turbulenzen, als jemand die Tür öffnet. Arbeitsgeräusche dringen ins Zimmer, gedämpfter, an den Wänden des Flurs gebrochener Schall, Klappern von Geschirr, der Hall zielstrebiger Schritte, dann wird die Tür geschlossen und er ist wieder allein.
    In einer Stunde, hat die Pflegerin gesagt, bringe ich Ihnen das Inhaliergerät, wegen Ihrer Bronchien, vom Arzt verordnet, er kann Ihnen alles am Nachmittag erklären. Was soll mit seinen Bronchien schon sein? Etwas entzündet, die Luft, das Wetter, die nassen Kleider, deswegen braucht er doch keinen Arzt. Er fährt sich mit der Hand über das Gesicht, die Finger streichen über Stoppeln, erinnern ihn an die Rasur, beim Kinn entdecken sie die Vertiefung, der Zeigefinger tut sich hervor, versucht einzudringen in die Wunde, möchte darin stochern, Gewissheit erlangen über die erlittene Verletzung, doch er gleitet ab. Der Schnitt ist nicht tief genug. Wo Gruber jetzt ist? Er hätte die Pflegerin fragen müssen. Es gehe ihm besser, hätte die nur gesagt und freundlich gelächelt dazu. Alles muss ganz ruhig vor sich gegangen sein in der Nacht, Schwitter wachte erst auf, als sie das leere Bett zurückrollten.
    Wolken schieben sich vor die Sonne. Schwitter hält den Kopf ruhig auf dem Kissen, achtet auf das Pochen der Arterien, hört harte Schläge. Auf achtzig schätzt er seinen Puls, ungewöhnlich schnell. Besonders schlimm, hatte ihm Schindler damals zugeflüstert, sei das Ausatmen, ständig diese Angst, die verbrauchte Luft nicht mehr aus der Lunge zu bringen. Wie ein Ballon, beschrieb er den Zustand seines Organs, in den fortwährend Gas einströme, größer und größer werde er, aber nirgends ein Ventil, um Druck abzulassen. Jeden Nachmittag, Schlag fünfzehn Uhr, trat Schindlers Frau ins Zimmer und legte sich, kaum hatte sie ihren Mantel ausgezogen, auf ihn und umschloss mit ihren Armen seinen Brustkorb, ganz so als vermöchte sie mit ihrem Gewicht die gefangene Luft aus der kranken Lunge zu pressen. Das Blau seiner Lippen hielt sie wohl davon ab, ihren Mann zu küssen. Fünf Minuten lagen sie aufeinander, manchmal auch zehn, dann erhob sich die Frau und ließ sich erschöpft und mit geröteten Wangen in den Sessel fallen. Das Gesicht des Mannes entspannte sich für kurze Zeit, und Schwitter war es, als könne er darin ein Lächeln erkennen.
    Vom Brustkasten steigt ein Kitzeln auf, dringt rasch zum Kehlkopf. Schwitter schluckt leer, macht Räusperlaute, will den Reiz unterdrücken, doch der Husten ist stärker, schon muss er Luft auspressen, der Brustkorb beginnt zu
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