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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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brennen, und in seinem Mund sammelt sich Schleim. Er führt die Zunge zum Gaumen, verstreicht die klebrige Masse. Endlich greift er nach dem Napf unter seinem Bett, doch sein Rumpf krümmt sich von neuem, seine Lungen werden zusammengedrückt, als quetsche jemand mit Kraft eine Tube aus. Dann erst kann er ausspucken und zusehen, wie die Absonderung auf den Boden des Behälters gleitet. Seine Zunge hat Rost angesetzt.
    Bei uns nehmen sich die Ärzte noch Zeit für die Patienten, hat die Pflegerin gesagt, das sehen Sie dann auf der Visite. Warm und herzlich sollen ihre Worte klingen, doch Schwitter versteht die Drohung, hier wird er nicht nur mittels Stethoskop abgehorcht. Die Fragerei mag noch so harmlos beginnen und unverfänglich, am Schluss geht es immer darum, dass er nicht aufpasst und ein paar Sätze zu viel verrät. Vollkommen überflüssig das Ganze, die bräuchten nur die richtigen Leute zu fragen, den Pfleger im Aufwachraum zum Beispiel, der ist vertraut mit der Geschichte, vermag sie lückenlos zu erzählen, um Ihr Gedächtnis zu beleben, so hat er sich ausgedrückt, sich auf Schwitters Bettrand gesetzt und zu flüstern begonnen: Im Stock, in diesem Wald zuhinterst in der Großen Runs, habe er gelegen, reiner Zufall, dass ihn ein Bauer gefunden habe, sonst wäre er erfroren. Soll eingeschlafen sein, an einen Baum gelehnt, das wisse er, sagte der Pfleger, von einem der Sanitäter, die ihn geholt hätten. Müsse ein Schock gewesen sein für den Bauern, den leblosen Körper zu entdecken mitten im Wald, durchnässte Kleider, leichenblasses Gesicht. Nichts mehr zu machen, wird der Bauer gedacht haben, steigt von seinem Transporter, beugt sich zu dem Mann hinab, er atmet, gottlob, rasch auf die Beine mit ihm, zum Wagen, aber die Beine knicken ein, immer wieder, er muss ihn umschlingen mit seinen Armen, unter den Schultern packen, vorsichtig geht er rückwärts mit der Last, Schritt um Schritt zerrt er sie über den Weg, hat keine Wahl, die Beine schleifen über den Boden, endlich hievt er den Mann auf den Beifahrersitz, zum Glück ist der so mager, ein Strick um den Bauch, das genügt, damit er in den Kurven nicht noch vom Wagen fällt, auf dem Hofplatz ruft er seine Frau, zusammen tragen sie ihn ins Wohnzimmer, aufs Sofa, breiten eine Wolldecke über ihn, alarmieren die Sanität, warten, legen etwas Holz nach, beobachten den Fremden, kneifen in seinen Oberschenkel, klatschen auf seine Wange, streichen ihm die Haare aus dem Gesicht, sehen auf die Uhr, zehn Minuten, holen sich einen Schnaps, fünfzehn, noch ein Gläschen, zwanzig, endlich ist das Martinshorn zu hören, sie eilen nach draußen, weisen den Sanitätern den Weg in die Stube, dann geht alles schnell, der Körper wird untersucht, eine Unterkühlung, aber nicht bedrohlich, sagt der jüngere der beiden, das Herz schlägt regelmäßig, die Atmung funktioniert, eine Kanüle wird gesteckt, eine Infusion angehängt, vorgewärmte Glukoselösung fließt in die Vene, eine Wärmedecke wird über den Rumpf gezogen, und schon ist das Bauernpaar wieder allein, winkt dem Fahrzeug nach, das über den Platz fährt, die Straße hinunter, aus dem Tal, nicht übereilt, Schneematsch liegt auf der Straße, die Sirene bleibt ausgeschaltet, das Blaulicht ebenfalls. Wie stimmungsvoll der Pfleger alles schildern kann, denkt Schwitter. Als wäre er dabei gewesen.
    Den Fuß hat niemand untersucht. Womöglich ist ein Band gezerrt, ein kleiner Riss nicht auszuschließen. Doch Schwitter bleibt ruhig, man wird die Schwellung schon noch entdecken, bandagieren, vielleicht etwas Eis auflegen. Im Bett ist die Irritation kaum wahrzunehmen, ein Kräuseln nur im Knöchel, wenn er sich darauf konzentriert. Beim Gehen aber wäre der Schmerz gleich wieder da. Er hat schon genügend Umstände bereitet bei der Einlieferung, hat sich gewundert über fremde Menschen, die seinen Körper untersuchten mit ihren Instrumenten, Licht machten und Lärm, auf ihn einredeten, Fragen stellten. Früher oder später muss man antworten, will die Zunge bewegen, aber sie bleibt liegen, wenigstens den Kopf rühren, Reaktion zeigen, darauf kommt es an, das wollen sie sehen, bis man Vor- und Nachnamen hersagen kann, auch das Geburtsdatum, dann darf man die Augen schließen, wird aber gleich wieder geblendet, muss wiederholen, das eine oder andere dazudichten, irgendeinmal geht es vom Schragen in ein Bett, nur ein dünnes Spitalhemd bedeckt den Körper, fällt einem auf, man wird durch Gänge geschoben, ein
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