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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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Infusion stecken müssen, inhaliert haben wir schon, sehr schön, aber das nächste Mal pressen wir die Maske nicht mehr ganz so fest aufs Gesicht, nicht wahr, sogar am Hals diskrete Verfärbungen, das ist doch nicht nötig, aber wir wollen nicht herumnörgeln, Hauptsache, alles ist wieder einmal ordentlich durchlüftet worden.
    Halb sechs, die Zeit vergeht langsam, das Personal zeigt sich schon lange nicht mehr. Schwitter steht auf, den Schmerz im Knöchel spürt er kaum, öffnet das Fenster, setzt sich in den Sessel und wartet. Er hat Geduld, denn er weiß, wer lange genug ausharrt, wird belohnt, wird mit Schneeregen belohnt. Ein frischer Luftzug genügt, und er richtet den Oberkörper auf, seine Schulterblätter spannen sich. Vom Wasser, das der Wind ins Zimmer trägt, lässt er sich nicht stören. Bald zieht kältere Luft heran, erste Schneeflocken erreichen ihn, wobei es sich ja genaugenommen nicht um die ersten, sondern die letzten Flocken handelt, sie haben es bis zum Boden geschafft, besonders robuste Kristalle, die am längsten der Wärme zu trotzen vermochten. Kraft und Zähheit zeichnen sie aus, da ist es nur angemessen, sie feierlich zu begrüßen. Schwitter beginnt, die Arme zu schwenken und mit den Händen zu fächeln. Dann senkt er bedächtig den Kopf, hebt ihn wieder, neigt darauf den Oberkörper, wiederholt das Ritual, verharrt in fast waagrechter Lage. Nun richtet er sich auf, um die Arme aus dem Fenster zu strecken und die Handteller in den Niederschlag zu halten. Er hofft, ein paar Kristalle aufzufangen, aber rasch bilden sich kleine Pfützen in seinen Händen. Wieder fließt sein Augenwasser, schwemmt Vergangenes mit sich fort, macht Platz für Neues, das geschieht ganz von selbst, er konzentriert sich nur auf seine Atmung, lässt die Luft langsam einströmen, macht Lungenzüge in der Hoffnung, diesen Augenblick für immer in seine Bronchien einzuschreiben.
    Satter, kräftiger Schneeregen fällt zu Boden. Aber weshalb soll die Schönheit all der Flocken und Tropfen, kaum haben sie zusammengefunden, schon wieder vergehen? Es muss ihm gelingen, den Niederschlag zu konservieren, die Zeit für einen Augenblick anzuhalten, bevor die Gebilde kaputtgehen. Mit Tellern könnte er versuchen, sie einzufangen, besser noch: eine gekühlte schwarze Fläche, damit sie gut sichtbar wären. Und dann pausenlos fotografieren, Bild um Bild, ohne Unterbruch, Beatrice drückt auf den Auslöser, gehetzt und atemlos, bis er den Film wechselt, und wieder von vorne, alles so flüchtig, doch sie vermag die Dinge festzuhalten, einzudringen in das Netz von Schnee und Regen. Zusammen kann es ihnen gelingen, den Niederschlag in seine Einzelteile zu zerlegen, gemeinsam können sie es schaffen, die Botschaften zu entschlüsseln, die jeder Tropfen, jede Flocke in sich bergen.
    Im Dämmerlicht erscheinen die Wände anders, er kann die Farbe nicht benennen, ungesund wirkt sie, wie nach einem Bluterguss. Hätte er länger hierzubleiben, dann müsste das Zimmer neu gestrichen werden, darauf würde er bestehen. Und das Gitter vor dem Fenster müsste auch weg. Noch lieber wäre ihm ein Balkon, groß genug für eine Liege, dort könnte er sich unter Wolldecken verkriechen. Das ist der richtige Rahmen für eine Kur, er lässt sich in den Stuhl betten und wird zum Mittelpunkt der Erde, ungestört könnte er über das Wetter nachdenken, in aller Ruhe Schnee und Regen beobachten, könnte sein eigenes Heilverfahren praktizieren, Gleichgewicht trainieren, sich inspirieren lassen von den fahrenden Wolken, den ganzen Tag Geborgenheit aushalten, den Körper unter der Decke wärmen, nur der Kopf ragt heraus, weich gelagert, über ihm Spektakel, raumfüllend, Tanz der Elemente, fest und flüssig, alles auf diesen Gegensatz reduziert, die Urformen der dinghaften Welt, im Schneeregen vereint.
    Das Licht ist spärlich geworden, er rückt den Sessel noch näher ans Fenster und kann zusehen, wie die Welt nach und nach auf ihre Umrisse reduziert wird. Bürgerliche Dämmerung, vielleicht fühlt Schwitter sich deshalb leichter in diesen Minuten, wenn sich Tag und Nacht die Waage halten, bevor sich das Zünglein auf die eine Seite senkt und die nautische und dann die astronomische Dämmerung an der Reihe sind. Beeindruckend, mit welcher Präzision die Zeit eingeteilt wird, bis ins letzte Detail wird die Welt benannt. Nur beim Schneeregen nicht, hier fehlt jede Genauigkeit. Schneeflocken werden in Dutzende von Kategorien eingeteilt, Regentropfen der Größe
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