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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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sorgen, nur ein kurzer Ausflug, nur rasch dem Nasskalten etwas nachspüren, bloß einen Eindruck gewinnen, sich eine vage Vorstellung machen von dieser Welt. Die Wanderung, da kann der Herr Professor beruhigt sein, ist mit größtmöglicher Gründlichkeit vorbereitet, meteorologische Abklärungen sind getroffen, Route und Ausweichmöglichkeiten festlegt. Er denkt an alles. Ein paar Worte zur Vorbereitung, warme Kleidung unerlässlich, Gummistiefel, Regenschutz, aber keinen Schirm, auf keinen Fall einen Schirm. Man muss den Schneeregen auf sich wirken lassen. Und nur wenig trinken vorher, die Blase schonen, die Wanderung darf nicht durch Pausen unterbrochen werden. Proviant erübrigt sich, angesichts der Schönheit bleibt der Magen stumm. Der meteorologische Zauber wird seine Wirkung zeigen.
    Der Professor blickt ihn erwartungsvoll an, lächelt verhalten, als wolle er sagen, wissen Sie, ich glaube Ihnen kein Wort, aber machen Sie nur weiter, die Geschichte gefällt mir. Schwitter übersieht es, seine einzigartige Methode, die muss er ihm erklären, ist wichtig, den Ablauf ganz genau beschreiben. Vom Schwelgen und Träumen, Herr Professor, hat noch keiner gelebt, auch im Schneeregen nicht. Ein gewisses Maß an Weltbezogenheit muss sein. Mit anderen Worten: Man muss haushälterisch umgehen mit den Kräften. Kein gedankenverlorenes Umherschweifen, nichts wäre unsinniger, als die ganze Körperwärme schon zu Beginn entweichen zu lassen. Deshalb immer daran denken: Bei Erreichen der Schneefallgrenze nur kurz stehenbleiben, die mit Wasser gesättigte Luft einziehen, bis Ober- und Unterkiefer erstmals aufeinander schlagen. Das ist das Zeichen, um weiterzugehen. Doch bevor Sie dem Schneeregen folgen können, müssen Sie den Niederschlag vermessen. Dazu steigen Sie so weit hoch, bis der Schnee in reiner Form fällt, bis die Flocken der Umgebungswärme gerade noch standzuhalten vermögen. Macht zwei- bis dreihundert Höhenmeter, für geübte Wanderer eine halbe Stunde. Vorausgesetzt, es geht steil genug bergauf. Im andern Fall droht wertvolle Zeit verloren zu gehen, wenn Sie kilometerweit harmlose Erhebungen vor sich haben, sanft gewellte Hügel, über die Sie schreiten müssen, bis Sie endlich vom Schneeregen in den Schnee kommen. Aber er hat die Topographie studiert, also rasch in die Höhe streben jetzt, geschwind bis in den reinen Schnee vorstoßen und, ganz nebenbei, die in die Glieder gefahrene Kälte vertreiben.
    Hier halten Sie wieder inne, hier müssen Sie sich eichen, müssen Ihren Kompass justieren, müssen sich die meteorologische Demarkationslinie einprägen. Temperatur, Feuchtigkeit, Luftdruck, das sind die Parameter, aber bitte keine Instrumente, keine Wettergeräte. Das Gefühl bewahrt Sie davor, zu weit aufzusteigen nachher und vom Schneeregen versehentlich in ein Schneetreiben zu stolpern. Dann wäre alles vergebens. Jetzt können Sie sich in den Schneeregen abfallen lassen, die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Der Professor mag es bereits ahnen, doch er muss es ihm in aller Ausführlichkeit erklären: Schneeregen ist nicht gleich Schneeregen. In ganz unterschiedlichen Ausprägungen kommt er vor, mal dominiert Regen, mal Schnee. Anmutig sind alle Formen, aber jetzt ist nicht Schwärmerei verlangt, begriffliche Klarheit ist es, was Sie brauchen, präzise Unterscheidungsmerkmale, an die Sie sich halten können. Nur so ist die Ausgewogenheit, die dieses Wetter in sich birgt, zu verstehen. Auf den ersten Blick mag der Fall ja klar sein, halb Schnee, halb Regen, dort wo beide sich die Waage halten. Aber was heißt halb Schnee, halb Regen? Man muss den Niederschlag studieren, um tiefer zu kommen, auf Überraschendes zu stoßen, man kann, etwas Ausdauer vorausgesetzt, verstehen, dass es einzig aufs Volumen ankommt, auf die Ausdehnung also von Schnee und Regen, das ist das Entscheidende, dieses Verhältnis muss bei fünfzig zu fünfzig stehen. Wenn Schnee und Regen genau gleichviel Raum einnehmen, dann stellt sich, einem Naturgesetz gleich, das alles durchdringende Harmoniegefühl ein.
    Damit ist die ideale Zone erklärt, jetzt kann es losgehen, das heißt, Sie können losgehen, zum Kern kommen: Schreiten im Schneeregen. Mag trivial klingen. Ist es aber nicht. Sie müssen den Kopf beieinander haben, müssen ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit aufbringen, um die Grenzlinie einzuhalten und, im besten Fall, ganz exakt in der idealen Zone zu bleiben. Schon kleinste atmosphärische Veränderungen wirken sich urplötzlich
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