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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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werden.
    Die Augen der Pflegerin eilen durch den Raum. Sie haben Fieber, sagt sie, ich hole Ihnen ein Medikament und frischen Tee, dann können Sie etwas schlafen, bis zur Visite. Immerhin brauchte er nicht zu wählen zwischen Pfefferminz oder Zitronenmelisse, Hagenbutte oder Kräutermischung. Einfach nur Tee. Aber er will jetzt nicht schlafen, er will mit ihr reden. Wie stellt sie sich das vor? Den ganzen Tag liegt er alleine im Zimmer, sagt kein Wort, das Sprechorgan ganz verstockt. Und dann kommt der Professor, und er soll flüssig daherreden. Hier nehmen sich die Ärzte noch Zeit für die Patienten, war ihm gesagt worden, er hat sich den Satz eingeprägt, auf Befehl soll er erzählen können, eine stimmige Geschichte wird erwartet, wenn da einer extra am Sonntag herkommt, sich den weißen Kittel überzieht. Die meinen, er könne den Herrn Professor unterhalten, wenn er seiner Phantasie etwas Lauf lasse, die Augen schließe, sich entspanne, den Gedanken nachwandere, zu den Gefühlen vorstoße, ohne zu zögern alles sage, was ihm durch den Kopf gehe und noch etwas mehr. Solche Befragungen kommen ihm bekannt vor, er müht sich ab, und der Therapeut hockt da und sagt kein Wort. Schwitter kann ausschmücken und dazuerfinden, soviel er will, den Professor kann er damit nicht beeindrucken. Der Professor kriegt noch viel aufregendere Berichte zu hören. Gegen die Realität vermag seine Phantasie nichts auszurichten, zu viel ist in Bewegung im menschlichen Körper, da wird gewuchert in den Organen, viel geht in die Breite, anderes schrumpft, verengt sich gefährlich, immer wieder auch der Verlust ganzer Körperteile, sie bleiben irgendwo auf der Strecke oder lösen sich auf allmählich.
    Der Professor versteht es, seine Langeweile zu verbergen. Er tut interessiert, und doch ist er mit den Gedanken woanders. Ein Mindestmaß an Anteilnahme vorspielen, das muss jeder Arzt beherrschen, er kann nicht jedem Patienten sein ganzes Gefühlssortiment präsentieren. Wer schon alles in diesem Zimmer gelegen hat? Patienten, die ruhig und teilnahmslos auf Besserung warteten? Oder solche, die um sich schlugen? Spuren scheint niemand hinterlassen zu haben. Die Wand hinter dem Bett glänzt wie frisch gestrichen. Womöglich wird die Fläche, die mit den Händen zu erreichen ist, regelmäßig übermalt, oder es ist ein spezieller Anstrich, der sich mit Wasser abwaschen lässt. Soll ja vorkommen, dass man Blut oder Erbrochenes verschmiert. Er könnte mit seinem Wundwasser etwas malen, die Haut kneten und die hervortretende Farbe mit den Fingern verteilen, eine hellrote Zeichnung, dick und unruhig der Strich.
    Was überlegen sich die Leute, ein Zimmer in diesem dreckigen Weiß zu streichen? Keine Farbnuancen, denen er nachspüren kann, endlos monoton die Fläche, abgesehen von ein paar Dellen, wo der Rolltisch oder der Sessel mit zu viel Schwung verschoben wurden. Eine Tapete wäre nicht schlecht, dann könnte er versuchen, ein paar Fetzen wegzureißen. Oder ein aufgemaltes Muster, dem könnte er nachfahren, seine Augen etwas bewegen. Am liebsten wäre ihm eine Holztäfelung, da ließe sich die Maserung studieren, die Jahrringe zählen, die sich an der Längsachse spiegeln. Wie Höhenprofile auf einer Landkarte, Senken, Gruben, Einbuchtungen, die zur Seite hin steil aufsteigen. Früher hatte er die Landschaften vermessen, wenn er krank im Bett gelegen hatte im Ferienhaus, pro Brett ein dünner Streifen, aneinandergereihte Rinnen, Gletschertröge im Kleinformat, Spuren paralleler Eisflüsse. Die Harmonie nur gestört durch Astholz, als hätten Meteoriten eingeschlagen, abgründige Räume, dunkle Energiefelder, an denen sich die Höhenlinien stauen. Die angeschnittenen Äste machten ihm Angst, als wären es die Augen von Insekten, die ihn beobachteten, hundertfach wurde er gemustert, wie er unter der Decke lag, sich nicht rühren durfte, Fieberschweiß auf der Stirn und auf der Brust ein Zwiebelwickel.
    Reine Zeitverschwendung, die Visite. Sie sollten gemeinsam eine Exkursion unternehmen, da würde der Professor verstehen, wie es um ihn, Schwitter, steht. Was kümmert ihn der Knöchel, und erst seine Bronchien, man muss auf die Zähne beißen, sonst kommt man zu nichts. Eintauchen müssen Sie in diese Welt, erleben, sie erspüren, mit Haut und Haar. Die nächste Front kommt, Schneefallgrenze bis tausend Meter sinkend, ein paar Schritte in den Chlosterwald, und das Spektakel beginnt. Der Arzt braucht sich nicht um Schwitters Gesundheit zu
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