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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt
Autoren: Antonia Michaelis
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Dämmergrün
    Etwas war geschehen.
    Der Wald war zu still, die Blätter der hohen Buchen schienen zu zittern, als kostete es sie beinahe übermäßige Anstrengung, sich nicht zu rühren, als wollten die Bäume ihre rauschenden Stimmen zu einem Schrei erheben.
    Etwas war geschehen.
    Er wusste nicht, was. Er war nur ein Betrachter.
    Er stand reglos, kaum atmend, ließ seinen Blick über das Grün der Blätter gleiten … Und dann sah er die Tiere. Auch sie waren zu still, in der Bewegung eingefroren, verharrend in einem Schritt, dem Heben eines Kopfes, dem lauschenden Aufstellen wachsamer Ohren. Da war ein Hirsch, halb verborgen im Schatten eines entwurzelten alten Baumes. Da war ein kleiner grauer Vogel, hoch in den Ästen einer Eiche. Da war ein Fuchs, ein schlanker roter Schemen im Unterholz: erstarrt, als hätte er etwas gehört, was er nicht hatte hören wollen.
    Etwas war geschehen.
    Irgendwo in der Tiefe seiner grünen Undurchdringlichkeit barg der Wald ein Geheimnis, irgendwo dort gab es etwas Schreckliches, vielleicht die Überreste von etwas. Irgendwo dort war Blut in den Boden gesickert, er konnte es beinahe riechen. Noch nie zuvor hatte er etwas Derartiges gefühlt, noch nie zuvor hatte ihn Stille auf diese Art schaudern lassen. Dort, in den Schatten, gab es etwas ihm Fremdes, Dunkles, das in der Welt, aus der er kam, keinen Platz hatte. Einen Moment lang glaubte er, eine Bewegung zu sehen, ein Huschen, drei weiße Schemen. Aber er irrte sich. Der Wald war still.
    Und er war schön. Er war vollkommen. Jedes Blatt, jeder grazil gebogene Ast, jede Ranke war eine Perfektion in sich, goldgrün, von innen heraus leuchtend, unerklärlich.
    Er trat zurück und schüttelte den Kopf, unwillig. Um den Wald wuchs ein rechteckiger Holzrahmen, und eine Glasscheibe trennte den Betrachter von der Perfektion der Bäume. Es war ein Bild, nichts als ein Bild im Fenster einer winzigen Galerie. Er hatte nicht damit gerechnet, hier so etwas zu finden wie eine Kunstgalerie. Vermutlich gab es Touristen. Wanderer, die die schmale, gewundene Straße hinaufgingen, um den wahren Wald zu betreten, vorbei an den niedrigen, aneinandergelehnten Häusern. Touristen mit Geld, die auf dem Rückweg vielleicht ein Bild erstanden. Er war ein Tourist. Ohne Geld allerdings.
    Er zuckte die Schultern versuchte, über sich selbst zu lachen. Was war in ihn gefahren? Wieso stand er hier und starrte dieses Bild an? Es war nicht einmal ein interessantes Bild. Ein Landschaftsgemälde, ersetzbar durch ein Foto, ein Gemälde, das nichts zeigte als das, was ohnehin schon da war.
    Nein.
    Genau das war es. Dieses Bild zeigte nichts. Es verbarg etwas.
    Blut war in die Erde gesickert, ein Geräusch gehört worden, der Wald erstarrt …
    Aber entsprang all das nicht nur seiner Einbildung?
    Er ging auch die drei steilen Stufen zur Tür der Galerie hinauf, ohne zu wissen, warum.
    Er war mit dem Zug gekommen, in Zittau war er zum letzten Mal umgestiegen. Er hatte vor zwei Tagen seine Gesellenprüfung zum Tischler gemacht und beschlossen, ein paar Wochen hier oben im Wald zu wandern: nur er und die Berge und der Himmel.
    Sein Name war Jari.
    Er hatte vor wenigen Wochen seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert.
    In seiner Tasche steckten sein Messer, ein Portemonnaie mit dreiundfünfzig Euro zwanzig und das Handy, von dem er hoffte, dass es hier oben keinen Empfang haben würde. Auf den alten Militärrucksack hatte er sein Zelt geschnallt. Er würde seine Nase nur kurz in die Galerie stecken, wozu auch immer, dann würde er das Dorf verlassen, das Bild vergessen.
    Er würde bis ganz hinauf gehen, in die Wolken, wo Nebel bereits die herbstlichen Pfade bedeckte. Und nach zwei oder drei Wochen, wenn er seine Lungen mit genügend frischer Luft gefüllt hatte, würde er irgendwo einkehren und sich ein Mädchen suchen, ein wenig Spaß haben. Er wollte etwas zu erzählen haben, wenn er nach Hause kam, so wie Matti: Matti mit dem wirren langen Haar, der mit ihm die Gesellenprüfung abgelegt hatte. Matti hatte immer eine Menge zu erzählen von den Mädchen, Matti sagte, es wäre leicht, eine zu finden, wenn man nur die Augen aufhielte.
    Wenn Jari an seine bisherigen Abenteuer dachte, waren sie nicht besonders abenteuerlich gewesen und erst recht nicht erzählenswert: Begegnungen mit Mädchen im Zwielicht schummriger Partys, hektisches Verheddern in Kleidung, eine gewisse Peinlichkeit, die Angst, in der jeweiligen verborgenen Ecke entdeckt zu werden, seine Ungeschicklichkeit,
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