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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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mitkriegt. Kaum dass er einschläft, sich sein Atem verlangsamt, eilen sie herbei. Für die erforderlichen Handgriffe genügt ein kurzes Wegdösen.
    Eine Sirene schreckt Schwitter auf. Die Sanitäter, sie müssen wieder einen holen, einen, der zu lange unter einem Baum gelegen hat, sich ins Delirium gesoffen oder eine Kurve verpasst hat bei der Sattelegg, die Passstraße ins Wägital will ausgereizt werden, man hat sich ja nicht vergebens für das stärkere Modell entschieden, eine ausreichende Leistungsreserve, hatte einem der Verkäufer geraten. Als er die Augen öffnet, sieht er einen Fleck auf dem Kissen, Speichel kann es nicht sein, nicht in diesem blassen Rot, Tränen unwahrscheinlich, braucht besonderes Wetter, bis sie fließen, die Flüssigkeit muss woandersher kommen. Er streicht mit den Händen über den Kopf, kontrolliert Ohren, Nase, alles trocken und unversehrt, auch kein Pickel an der Stirn. Beim Kinn stoßen seine Finger auf den Schnitt, er fährt ein paar Mal darüber, bis sich die Kuppen klebrig anfühlen. Sonderbar, da schneidet er sich beim Rasieren, und Stunden später erst beginnt sich die Wunde zu regen. Er spürt nichts, kein Brennen, keine Irritation, nur diese Feuchtigkeit. In einer Klinik kann sich der Körper mehr Zeit nehmen, die erwartete Reaktion zu zeigen. Vielleicht lässt sich die Heilung beschleunigen, wenn er die Wunde massiert, wenn er mit beiden Daumen die Haut auseinanderzieht und wieder zusammenpresst, wenn er mit dem Zeigefinger den Spalt zu weiten versucht. Sanfter Druck soll förderlich wirken auf die Zellteilung. Zu klingeln braucht er nicht, kommt ja doch niemand, überflüssig auch, die schwere Tür zu öffnen, auf dem Gang hin und her zu gehen und zu warten, bis sich eine Pflegerin zeigt.
    Er würde gerne einmal mitfahren zu einem Verkehrsunfall. Nicht um Leben zu retten, nicht um das Opfer mit Blaulicht ins Spital zu fahren, falls überhaupt noch etwas auszurichten wäre. Er möchte am Unfallort bleiben, den Polizisten bei der Arbeit zusehen, wie sie Zeugen befragen, wie sie sich mit Kreide und Messband zu schaffen machen, um Brems- und Schlagspuren im Asphalt zu vermessen. Er möchte mehr wissen als das, was in der Zeitung steht, er möchte selbst die Straße nach Spuren einer Karambolage absuchen. Diese Kraft spüren, wenn Lebenslinien, die eben noch kontrolliert verlaufen waren und schnurgerade, plötzlich abreißen. Die Logik des Zufalls, er will sie verstehen, will jedes einzelne Glied einer langen Verkettung auseinanderhalten können. Kürzlich diese Kollision auf der Seestraße, da wäre er dem Unfalldienst gerne behilflich gewesen, einer war bei Rot über die Kreuzung gefahren, der Mann im anderen Auto hatte keine Chance, war noch vor dem Eintreffen der Sanität verstorben. Bei solchen Zusammenstößen entscheiden Sekundenbruchteile darüber, ob der eine Wagen exakt auf die Fahrgastzelle des andern prallt oder ob es erst am Heck zum Kontakt kommt. Die kleinste Verzögerung, und der Mann, 45jährig, Vater zweier Kinder, würde noch leben. Wir wollten noch so viel gemeinsam unternehmen und erleben, hatte die Witwe geschrieben, erschüttert und fassungslos muss ich viel zu früh und für immer Abschied von dir nehmen. Es braucht nicht viel Phantasie, um die Todesanzeigen mit den Unfallmeldungen in Übereinstimmung zu bringen, in den meisten Fällen genügen die Altersangaben. Wäre der eine vom Gas gegangen, um sich die Nase zu putzen, oder hätte der andere warten müssen, weil eine Frau mit ihrem Kinderwagen die Straße überquerte, die beiden Fahrzeuge hätten sich nicht berührt.
    Ob der Mann klassische Musik hörte, als es krachte? Vielleicht weil er sich vor einem Qualifikationsgespräch entspannen wollte? Welche Farbe sah er, welchen Geruch nahm er wahr? Letzte Sinneseindrücke, bevor sie von inneren Bildern überlagert werden. Je großzügiger der Zwischenraum zwischen Erkennen der Gefahr und dem Aufprall bemessen ist, desto länger kann sich das Hirn damit beschäftigen. Vielleicht will man noch ausweichen. Man sollte nicht die Schuld am eigenen Tod tragen. Im letzten Moment seines Lebens zu realisieren, dass man einen Fehler gemacht hat, ist nicht gut. Das ist vielleicht der letzte Gedanke überhaupt. Selbst wenn man korrekt fährt, hat man keine absolute Gewissheit auf einen versöhnlichen Abgang. Immer schwelt da der Vorwurf, man hätte besser aufpassen müssen. Falls Schwitter im Verkehr umkommen sollte, dann möchte er von hinten überrollt
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